
Rezension zur Graphic Novel von Shaun Tan: Ein neues Land (2006)
Aug 23, 2024
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Das immer aktuelle Thema der Flucht
Nicht mal Seitenzahlen! Kein einziges Wort, zumindest keins, das sich entziffern ließe. Und doch eine zeitlose Erzählung, eine Art Entwicklungsroman, voller lyrischer Elemente und epischer Räume. Dies ist „eine Geschichte, die in hohem Maße auf Stille und Rätsel baut.“ (2011:5), bestätigt Shaun Tan in seinem 2011 ebenfalls im Carlsen Verlag als Schuber-Sonderedition erschienenen „Skizzenbuch“, in dem der Autor, Künstler und Illustrator den vierjährigen Schaffensprozess für The Arrival resümiert und seinen „Bilder-Lesern“ interessante Einblicke in sein Laboratorium ermöglicht. Nicht etwa, weil sein Meisterwerk Ein neues Land einer Erklärung bedürfte, sondern der Autor sich selbst und den Leser nochmals an seiner eigenen Faszination beteiligen will. (ebd.). Er gliedert seine Werkstattanalyse unter Kapitelüberschriften, die zentralen Aspekte seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema „Auswanderung“ widerspiegeln, wie „Zugehörigkeit“, „Reisen“, „Die Stadt“, „Sprache“… Zudem präsentiert er neben der unendlichen Fülle lockerer, experimenteller Skizzen und Entwürfe auch Techniken wie das Collagieren, das Erstellen kleiner Ton-Figuren oder dreidimensionaler Modellräumen samt Interieur, die ihm eine räumlich und lichttechnisch stimmige Vorstellung der wechselnden Bild-Szenen während des Zeichnens erleichterten.
Tan, Sohn eines chinesisch-stämmigen Vaters, der 1960 von Malaysia nach Australien emigrierte, und einer australischen Mutter, wurde 1974 in Perth geboren und fiel wohl bereits in der Grundschule als guter Zeichner auf, womit er – wie er selbst sagt – ausgleichen wollte, dass er in der Schule immer der Kleinste war.
(http://www.shauntan.net/about.html)
Erzählt wird in der Graphic Novel Ein neues Land vom Schicksal eines Mannes, der Frau und Töchterchen in einem verarmten, verwahrlosten und bedrohlichen Land zurücklassen muss, um anderswo, jenseits eines gewaltigen Ozeans, auf einem fernen Kontinent ein neues Leben zu beginnen. Ein Abschied ins Ungewisse. Es ist die persönliche Geschichte dieses namenlosen Mannes, die zu einer allgemeingültigen Erzählung über einen Emigranten wird, der bis auf einen Koffer nichts besitzt und in der unbekannten Fremde ganz von vorn anfangen muss: neue Identität, Sprache, Kultur…
Tan gelingt mit seinen ausgezeichneten Zeichnungen eine vor allem atmosphärische Transformation der erlebten Wirklichkeit seiner Figuren ins Surreale, in die Fiktionalität einer Zeit und Raum überwindenden Kulisse, die den Betrachter nicht grundlos an die Utopien des Science-Fiction-Genres erinnert: SF- und Horror-Zeichnungen waren die künstlerischen Anfänge des jungen Shaun. Wie der Autor in seinem Skizzenbuch verrät, habe ihn „schon immer die indirekte Illustration interessiert, also der Versuch, ein methaphorisches Äquivalent für ein Thema oder eine Erfahrung zu finden.“ (ebd.). So inspirierte ihn zum Motiv des Emigranten beispielsweise ein Film über Korallen, deren milliardenfach zur Fortpflanzung freigesetzten, winzigen Eier nachts „wie winzige Heißluftballons“ (2011:20) durch das Wasser schweben: der Ankömmling, der in der Fremde mit einer Art weißem Ballon-Taxi durch den nächtlichen Himmel fliegt. Nicht wissend, wohin er getrieben und wo er landen wird, den Dimensionen und Kräften einer unbekannten Welt ausgesetzt. Eine andere Metapher findet sich in jenen tierähnlichen Wesen wieder, die wie seltsame Fabeltiere oder eigenwillige Haustiere als selbstverständliche Begleiter der Erzählfiguren auftauchen. Auch der Ankömmling begegnet in seinem neuen Quartier einem solchen „Totem“, der eine Mischung aus Kaulquappe, Hund und Papagei zu sein scheint und sich nach anfänglichem Fremdeln seinem neuen Herrn anzunähern beginnt. Tan verweist in seinem Blog auf die versteckte Symbolik der eingeschriebenen Ontogeneseprozesse: “I always imagined the creature from The Arrival is only a juvenile form of another animal, like a metaphor for the newly arrived migrant who has yet to grow and mature.” (thebirdking.blogspot.com.au, eingestellt am 9.07.2017) Die humorvolle, comic-ähnliche Leichtigkeit mancher Szene – zum Beispiel jenes kleine geflügelte Wesen mit dem Maul eines Froschs und den Stielaugen einer Krabbe, das an einer Hotel-Rezeption aus seiner Schlafdose aufschreckt und loskrakeelt – steht immer wieder in Kontrast zu den ruhigen, fließenden Alltagsbildern oder den finsteren, traumatischen Reminiszenzen anderer Flüchtlinge, die dem Protagonisten im Laufe der Geschichte begegnen. Tan zitiert und verarbeitet hierbei kollektiv eingeprägte Bilder von Flüchtlingen, wie z.B. den einwanderungsbehördlichen Passfotos von Ellis Island, aber auch drastische Fotografien von Szenarien der Schlachtfelder des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Manche Zeichnung erinnert an Piranesis düster-pittoreske Carceri-Zeichnungen (1745-1750) oder an die meisterliche Licht-Schatten-Regie eines Caravaggios, Rembrandts oder Goyas. Tan selbst beruft sich in seinem Skizzenbuch auf überwiegend europäische Künstler wie Tom Roberts (Going South, 1886), Collagen von Max Ernst, Illustrationen des englischen Künstlers Raymond Briggs oder den Film Fahrraddiebe (1948) des italienischen Regisseurs Vittorio de Sica. Der genaue Betrachter findet in manchem großformatigen „Wimmelbild“ versteckte Bezüge zur Architektur der italienischen Renaissance, zu futuristischen Kulissen und Modellen der Science-Fiction-Filme der 1950er Jahre oder zu Maschinen und Geräten aus Zeiten der späteren Industrialisierung in den USA. Eingebettet sind diese ikonografischen Referenzen in die unendliche Formenklaviatur der evolutionären, metamorphen Prozesse von Flora und Fauna, die der Autor mit zauberhafter Hand beherrscht.
Bedeutsamkeit, Funktion, Geschmack und Geruch all der neuen, alltäglichen Dinge, die der Held in der Fremde kennen lernt und sich aneignet, wiederholen trotz der oft beklemmend spürbaren Orientierungslosigkeit und Verlorenheit letztlich doch das Ähnliche, Verbindende, das Vertraute einer menschlichen Kultur. Das wiederkehrende Motiv der Hilfsbereitschaft wildfremder Leute, dem Fremden eine Chance zu geben und ihn zu unterstützen, gerade weil die Erinnerungen an das eigene Ankommen noch lebendig sind, zieht sich wie ein hoffnungsvoller Grundton durch die Erzählung hindurch. So ruft uns Tan in Erinnerung, was zur Conditio Humana gehört: „Die Geschichte der Menschheit ist eine der erzwungenen Migration von Menschen, die ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, manchmal an einem Ort, der praktisch namenlos ist.“ (2011:15). Und lässt den Betrachter möglicher Weise mit der fundamentalen Frage zurück: „Was wäre, wenn ich morgen alles Vertraute zurücklassen müsste?“
Anmerkung des Verfassers: Diese Rezension wurde erstmalig in der Fachzeitschrift Kunst & Therapie (2017/2) veröffentlicht. Köln: Claus Richter Verlag.
Shaun Tan
Ein neues Land
Eng. Original: The Arrival (2006). Australia: Lothian Children’s Books
2008, Hamburg: Carlsen Verlag graphic novel
128 Seiten, 900 Zeichnungen
Einzelausgaben:
ISBN 978-3-551-73431-0 (24 x 31 cm; gebundene Ausgabe: 29,90 €)
ISBN 978-3-551-71378-0 (20 x 25 cm; Paperback: 14,90 €)
Im Doppel-Schuber mit:
Shaun Tan
Skizzen aus einem namenlosen Land
Die Kunst von Ein neues Land
2011, Hamburg: Carlsen Verlag
48 Seiten, 24 x 31 cm, gebundene Ausgabe
ISBN 978-3-551-73439-6
49,90 € (nur im Schuber erhältlich)