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Mühlthal könnte sich irren

Jul 4, 2024

89 min read

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Titus David Hamdorf (2024): Mühlthal könnte sich irren

Eine kasuistische Erzählung


 

Vorab: Erklärung zum Daten- und Personenschutz:

Sämtliche Figuren und Orte der nachfolgenden Erzählung sind erfunden, auch wenn der Autor sie auf der Grundlage seiner langjährigen kunsttherapeutischen Erfahrung realitätsnah beschrieben hat. Entsprechend sind in jeder kasuistischen Geschichte die charakteristischen Verhaltensweisen und Vorgeschichten mehrerer junger Menschen zusammengeflossen. Eine Ähnlichkeit oder gar Übereinstimmung mit einer bestimmten, realen Person ist daher ausdrücklich ausgeschlossen.


 

Sonntag, 13:45, Mühlthal

Er ist in den Park gegangen, weil mittags die Sonne rauskam. Nicht etwa, weil er dazu Lust hat. Denn Orte, an denen zu viele Leute herumlaufen, mag er nicht besonders. Mit ihren Hunden und ihrer Langweile, dieser fleischgewordenen Ödheit auf zwei Beinen, die sich für ihn anfühlt wie Blei und Watte zugleich. Sebastian Mühlthal versucht sein Leben vernünftig zu führen, auch wenn es ihn langweilt, sobald er damit allein ist. Und sonntags ist er fast immer für sich, weil seine Frau Cara sonntags dann ihre alte Mutter besucht. Er hat selten Lust auf seine Schwiegermutter, die er zwar mag, mit der er nur leider wenig anfangen kann. Also bleibt er zu Hause. Wie jeden Morgen hat er im Spiegel die grauen Haare entdeckt, die über Nacht oder seit letztem Sonntag nachgewachsen sind. Es ist ihm gleich, vielmehr findet er diese um sich greifende Entfärbung der Haare durchaus interessant, das Verschwinden von Pigmenten, die auf der Haut unverhofft wieder auftauchen als kleine bräunliche Inseln oder Punkte. Wie Flechten, Moose, Pilze, denkt er belustigt. Er hat nichts anderes zu tun heute, als seine Haut und Haare zu studieren. Vielleicht ist der siebte Tag der einzige, an dem ich überhaupt in den Spiegel gucke, denkt er. Er rasiert sich sogar nur einmal in der Woche. Stutzt die Härchen über den Ohren, rupft welche aus der Nase oder zupft vereinzelte Borsten aus den Brauen, die immer dichter werden, wie aus widerspenstigem Trotz heraus. Oder wie bei Vater, stellt Mühlthal fest, oder beim Neandertaler. Er sagt sich, dass er immer noch volle Haare habe, keine Glatze, nur die Geheimratsecken. Wie sein Vater, der zahnlos, aber mit einer weißen Mähne gestorben ist. Wieso er jetzt an dieses ganze Zeug denkt, muss er nicht verstehen, hat er irgendwann beschlossen, wenn er solches Zeug zu denken anfängt. Nonsens. Bullshit. Mühlthal ist inzwischen im Park angekommen. Er setzt sich auf eine Bank in der Nähe eines Seniorenheims, weil er unter der Woche ständig Kinder und junge Menschen sieht. Gleichsam zum Ausgleich beobachtet er heute alte Menschen, die wie er in den Park gegangen sind, als mittags die Sonne herausgekommen ist. Die an Rollatoren oder über die Kieswege geschoben werden von einem ebenfalls älteren Mensch oder einem jüngeren. Neben ihm sitzt ein Greis, der seine dünnen faltigen Hände auf den Knien abgelegt hat wie ein offenes Buch. Mühlthal betrachtet verstohlen den Dreck unter den weißen Nägeln des Alten und überlegt, ob das womöglich Kot sein könnte. Er vergewissert sich, dass der Mann neben ihm schläft und schaut ihn sich genauer an. Den gelbschuppigen Grind in den verklebten Wimpern, etwas Bräunliches in den Mundwinkeln, eine rotgeäderte Nase, die zum fahlen und ausgesprochen liederlich rasierten Antlitz eigenartig in Kontrast steht. Die schlohweißen Härchen des Schläfers, die sich wie Flaumfedern im Wind bewegen, berühren Mühlthal auf unbestimmte Weise. Ja, sie machen ihn regelrecht traurig. Er guckt woanders hin. Blickt der jungen Frau hinterher, die ihr Baby an sich festgewickelt hat und derart wiegend und sanft an ihm vorbeiläuft, dass er sie insgeheim beneidet für diese Selbstverständlichkeit und Ruhe, mit der sie ihr Kind vor sich herträgt, mit diesem unverschämt friedlichen, geradezu seligen Gesicht, das er im Übrigen anziehend hübsch findet. Einen Moment lang glaubt er sie sogar zu kennen. Rutscht auf der Bank aufgeregt nach vorn, wie auf dem Sprung, und verkneift sich gerade noch, ihr einen Namen hinterherzurufen, der ihm eingefallen ist. Jenny. Oder war es Jessy, überlegt er. Jenes Mädchen, das damals ein Jahr lang dreimal in der Woche zu ihm gekommen war, weil irgendwer behauptet hatte, es verhalte sich unter Gleichaltrigen auffällig zurückhaltend und sei generell viel zu still und zu ernst. Abgesehen davon hat sie bei ihm tatsächlich gern gemalt, weil sie dann nicht reden musste, vermutete Mühlthal, um irgendwann auf einmal doch ganz von selbst mit ihm über ihre Bilder zu reden. Er erinnert sich, wie Jenny oder Jessy regelrecht aus sich herausgegangen war und sogar seinen eigensinnig verwinkelten Humor besser verstanden hatte als manch anderer. Er muss auch an ihren Besuch bei ihm denken, ein paar Jahre später. Eines Abends war sie einfach vor seinem Atelier aufgetaucht und hat ihm zugewunken. Eine erwachsene Frau, die er vor allem an ihrem verlegenen Lächeln und jenem Schleier aus Trauer und Verlorenheit sofort wiedererkannte. Mühlthal hatte ihr damals vom Fenster aus bedeutet doch hereinzukommen. Sie tranken Tee zusammen, saßen sich gegenüber, auf ihren alten Plätzen am Tisch, und er hörte ihr zu. Er brachte sie sogar ein bisschen zum Lachen mit einem Scherz, der sie auch früher schon erheitert hatte. Mühlthal erfuhr von ihrer Hochzeit und ihrer Lehrstelle in der Kreisstadt. Buchhandelskauffrau, meint er sich zu entsinnen. Es klang alles eigenartig normal, fand er. Und er erinnert sich genau daran, wie sehr er sich darüber freute und dass er doch nicht ganz daran glauben konnte. Eine Wolke hat sich soeben vor die Sonne geschoben und der alte Mann neben ihm auf der Bank ist davon wachgeworden. Er blinzelt, legt seine Hände übereinander und schmatzt leise, bevor er wieder einschläft. Mühlthal erhebt sich und beschließt zum Café in der Aue zu laufen und dort ein Stück Käsekuchen zu essen. Eigentlich ist das eine Angewohnheit von ihm, am Sonntag Käsekuchen zu essen in diesem Café, das an und für sich ungemütlich ist wie eine Wartehalle, oder bei schönem Wetter wie heute auch davor. Die Stühle sind unbequem, die Tischchen wackeln, die Aschenbecher quellen über. Aber Mühlthal mag die Kellnerin Susi, die sonntags dort bedient, weil sie nett zu ihm ist, aber ziemlich unhöflich zu den anderen Gästen, was er mit Genugtuung festgestellt hat. Und weil es dort den besten Käsekuchen in der Stadt gibt. Mühlthal ist keiner, der in Cafés Zeitung liest. Er hat mehrere Anläufe unternommen die Tageszeitung zu lesen oder zumindest das Feuilleton oder die Schlagzeilen. Aber er schweift während der Lektüre sofort ab. Er muss sich eingestehen, dass ihn Nachrichten langweilen. Irgendwann hat er es aufgegeben. Auch heute sitzt er nur in der Sonne und guckt Leute, wie Cara das nennt. Leutegucken. Er trinkt drei Tassen Kaffee Crema, raucht sechs Zigaretten ohne Filter. Für seinen Kuchen braucht Mühlthal über eine Stunde. Vielleicht ist das ja die einzige Meditation, die ich gut beherrsche, überlegt er und begutachtet die Mikrobläschen der Crema auf seinem Kaffee, die ununterbrochen andere Binnenflächen umschließen. Gespenster in Gesichter verwandeln oder in Gestalten, denen Kopf und Beine davonschwimmen. Er ist gerade dabei ein Loch in die Mitte zu pusten, als sich ein Spatz auf seinen Tisch setzt und ihn höflich anguckt. Mühlthal schaut, ob Susi grad schaut, aber sie ist nirgendwo zu sehen und er kann den Vogel auf dem Tisch vor ihm mit Kuchen bewirten. Der Kleine pickt sich einen Krumen und flattert damit auf den Boden. Vielleicht hätte er doch ein Buch mitnehmen sollen oder einen Skizzenblock, in den er jetzt den Spatz hineinzeichnen könnte oder den jungen Mann am Nachbartisch, der sein zweites Bier bestellt hat und auf seinem Smartphone herumtippt. Schwindelerregend schnell, denkt Mühlthal. Früher hat er das regelmäßig getan, also gezeichnet oder geschrieben, wenn er irgendwo unterwegs war. Oder auch mal ein Buch gelesen. Er betrachtete es lange Zeit als professionelle Fingerübung und als willkommene Ablenkung, in erster Linie von sich selbst. Schließlich muss er jeden Tag fit sein, also rein zeichnerisch gesehen, gerade dann, wenn Jugendliche zu ihm kommen, die mit ihm genauso erbarmungslos kritisch sind, wie mit sich selbst, die regelrecht ausflippen oder implodieren, wenn eine Zeichnung missglückt oder nicht haarklein ihrer Vorstellung entspricht. Inzwischen ist es ihm egal, ob er selbst an einer Zeichnung scheitert oder nicht. Ja, er ist sogar überzeugt, dass die Erfahrung des Misslingens genauso wichtig ist wie die des Gelingens. Ich bin halt ein gutes Vorbild fürs Scheitern, sagt er sich, Basta. Der Spatz ist wieder zurückgekehrt. Du bist ja mutig, sagt Mühlthal und schiebt ihm den Teller mit den Krümeln hin. Er muss jetzt an die Woche denken, die vor ihm liegt. Es lässt sich nicht verhindern, dass er früher oder später an die kommenden Tage denken muss, sobald der sich der späte Sonntagnachmittag nahtlos in den frühen Abend zu schieben beginnt wie die Sonne vor den Mond bei einer Finsternis. Ein bisschen ist es jedes Mal wie ein spitzer Schreck, der Mühlthal dann durchfährt. Dieser Gedanke an seine langen Arbeitstage, an all die kleinen und größeren Kinder, die zu ihm kommen und bis zum nächsten Termin wieder verschwinden. Manche tauchen gar nicht wieder auf. Aber das ist eher selten. Er mag die Kinder gern, die ihn besuchen, um etwas zu machen, worauf sie Lust haben oder was ihnen einfällt. Er mag auch sein Atelier, das größer und heller ist als alle vorangegangenen. Mit Blick auf die Sackgasse, die auf den Backsteinbau des Waisenheims zuläuft, und nach hinten zum Garten hinaus, in dem den ganzen Tag über Nachbarskinder spielen, die nicht zu ihm kommen und mit denen Mühlthal also nichts zu schaffen hat. Außerdem schätzt er die Einfachheit der Dinge in seinem Raum. Ein rechteckiger Tisch, eine Staffelei, eine Malwand neben dem Waschbecken, ein verschlossener Aktenschrank, ein Depotschrank für Papier und unvollendete Werke, ein Materialregal, zwei Hocker und zwei Stühle. Nichts weiter. Keine Bilder an den Wänden, lediglich unzählige Malspuren und bunte Kleckse überall. Mühlthal hat es aufgegeben, alles möglichst sauber halten zu wollen, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass diese Dreckspuren die Kinder förmlich dazu einladen selbst fröhlich Spuren zu hinterlassen. Das ist der feine Unterschied, denkt er, dass sie hier mit Farben spritzen und manchmal sogar Ton an die Wand klatschen dürfen. Klar, es gibt auch Regeln. Aber in all den Jahren hat es nur einen Jungen gegeben, der sie verletzt hat. Mühlthal muss jetzt die Finger nehmen, um diese Jahre abzuzählen, die er bereits dort arbeitet. Acht, fast neun, sagt er vor sich hin. Länger hat er bisher noch nirgendwo ausgehalten. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sein erster Job, das war ein Jahr lang wie im Kloster im Nirgendwo, die totale Ausbeutung eines blutigen Anfängers, wie er heute weiß. Danach kam seine Flucht in die Großstadt, über ihn hereinbrechende Sinnfragen, nagende, zermürbende Zweifel an sich und vor allem auch an seinem Beruf, dieser Pseudoberufung, wie er ihn bezeichnete, um sich endgültig selbst zu kasteien, was natürlich erst recht nichts brachte. Er hielt sich damals über Wasser mit zahllosen Gelegenheitsjobs und vor allem mit sehr viel Alkohol. Das hatte Mühlthal vier Jahre durchgestanden, bevor er reumütig zu ebendieser Pseudoberufung zurückkehrte und sich bei der ganzen Angelegenheit einzureden versuchte, es sei generell eine Gnade, diesen und keinen anderen Brotberuf gewählt zu haben. In den sieben nachfolgenden Jahren erlaubte er sich gar keine Zweifel mehr. Er nahm die Arbeit demütig an, als müsse sie etwas durch und durch Sinnvolles sein. Ging morgens in den großen Kasten, in dem kranke Menschen behandelt wurden, bis man sie irgendwann wieder entlassen konnte, und abends verließ er den Kasten eben wieder. Ja, er sagte nur Kasten dazu, ohne zu bemerken, wie respektlos und despektierlich das eigentlich klang. Ich arbeite im Kasten, antwortete er, wenn jemand ihn fragte, wo er arbeite. Auch all diese kranken Männer und Frauen hatte er sehr gemocht. Ein wenig anders als heute die Kinder, aber doch ausreichend gern, um behutsam und geduldig bleiben zu können, wenn einer von denen versuchte ihn zur Weißglut zu bringen. Sogar sein damaliges Atelier gefiel ihm, auch weil er noch keinen Vergleich hatte zu anderen, die heller, größer und besser ausgestattet waren als sein jetziges. Sein Arbeitsbereich samt angrenzendem Archiv und Materiallager lag im Keller und hatte kein Tageslicht. Es befand sich neben einem Raum, in dem Leichen aufbewahrt wurden, bis sie in einen Sarg gelegt und abgeholt wurden. Mühlthal hat in der ganzen Zeit allerdings keinen einzigen leibhaftigen Toten gesehen. Nicht einmal jenen jungen Mann, der sich aus dem Fenster im siebten Stock gestürzt hat, nachdem er noch kurz zuvor bei ihm gewesen war. Mühlthal hatte damals ewig lange gebraucht, sich nicht mehr schuldig dafür zu fühlen, dass der junge Mann gesprungen war, kurz nachdem er bei ihm gewesen war und ein völlig harmloses Stillleben gezeichnet hatte. Mühlthal hätte es auf keinen Fall ahnen können, weil überhaupt auf allen Bildern des jungen Manns immer nur hübsche Blumen und niedliche Tiere zu sehen gewesen waren. Und weil der Verzweifelte just an diesem Vormittag überhaupt nicht verzweifelt auf Mühlthal gewirkt hatte, sondern irgendwie aufgekratzt, was ihn im Nachhinein gesehen allerdings hätte alarmieren können, diese Heiterkeit und Leichtigkeit ohne jeden Anlass. Ohne Cara, eine Kollegin, die damals auffällig oft zu ihm in den Keller gekommen war und sich seine schlimmen Selbstvorwürfe mit für ihn unbegreiflicher Geduld angehört hatte, wäre Mühlthal ganz bestimmt auch von dort wieder weggegangen. Hätte vor lauter Selbstzweifeln und Schuldgefühlen am liebsten hingeschmissen, den Kasten verlassen, aus dem unglückliche kranke Menschen sich jederzeit in den Tod stürzen konnten, einfach so, aus heiterem Himmel. Aber Cara flehte ihn an dazubleiben. Was er an ihr allerdings nicht bemerkte, war das eigentlich Offensichtliche, dass sie nämlich Hals über Kopf in ihn verliebt war. Und als er das dann endlich kapierte, war es auch für ihn ganz selbstverständlich und leicht gewesen, sich rettungslos in Cara zu verlieben. Mühlthal lächelt vor sich hin und denkt, das war eine besonders schöne Zeit. Cara und er. Als Cara dann ein besseres Jobangebot im Südwesten erhielt, konnte Mühlthal seinerseits kündigen und mit ihr zusammen in die andere Stadt ziehen. Auch das war eine schöne Zeit, sagt er sich. Und kurz danach hat auch er wieder zu arbeiten angefangen in diesem Heim. Einem Heim für Waisenkinder, die auf andere Eltern warten. Oder die wieder zurückkommen, obwohl sie gehofft hatten, vorübergehend nette Eltern gefunden zu haben, was sich dann leider als schwerer Irrtum erwiesen hat. Es wohnen aber auch kleine, mittelgroße und große Kinder in diesem Heim, die eigentlich noch Eltern hätten, auf die sie jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen vorübergehend oder für immer verzichten müssen, weil es sonst für sie zu gefährlich wäre. Offenbar hat Susi seinen Kuchenteller abgeräumt, ohne dass er es bemerkt hat. Der bettelnde Spatz ist fort und der letzte Schluck Kaffee ist kälter als die Außentemperatur, stellt er fest und spuckt ihn heimlich zurück in die Tasse. Er geht zum Zahlen nach drinnen zu Susi, die am Tresen lehnt und ihn anlächelt, mit dieser kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen, die ihn wie jedes Mal aufs Neue fasziniert. Er macht sich auf den Heimweg, wobei er zügiger geht als beim Herkommen, weil ihm vom langen Draußensitzen kalt geworden ist. Unterwegs rollt ihm ein kleiner grüner Ball mit weißen Punkten vor die Füße, der zu einem kleinen Jungen gehört, der noch Windeln trägt und vor Vergnügen quiekt, als Mühlthal das Bällchen sachte zu ihm zurückschießt. Schade, denkt er, mit dem Kleinen zu spielen wäre eine nette Ablenkung, doch sein Vater, der Mühlthal misstrauisch beobachtet hat, ist ein Muskelprotz, mit dem er sich nicht anlegen sollte. Er geht weiter. Der Greis mit den schlohweißen Flaumhaaren sitzt nicht mehr auf der Bank. Überhaupt hat sich der ganze Park geleert, seit die Sonne hinter den Wolken verschwunden ist. Mühlthal freut sich jetzt auf seinen Sessel zu Hause, auf das Glas Rotwein und das Buch, was er hätte mitnehmen sollen, um es im Café weiterzulesen. Vor allem freut er sich auf Caras Rückkehr und ihr Erzählen, das auf jeden Fall unterhaltsamer sein dürfte als sein langweiliger Bericht über einen Greis, einen Spatz und all diese aus dem Nichts aufgetauchten Erinnerungen an früher, denkt er. Er überlegt kurz, ob es Joe ist oder Justus, der morgen um acht als erster bei ihm ist. Als er die Wohnungstür aufschließt, steht plötzlich Cara vor ihm im Flur und umarmt ihn. Ich habe dich schon kommen gehört, sagt sie. Das ist schön, meint Mühlthal, dass du schon so früh zurück bist.


 

Montag, 8:00, Joe

Er schaut dem Jungen beim Zeichnen zu. Es ist zu lange her, als er selbst noch ein Junge war, der zeichnete. Und es hat ihm auch nie jemand dabei zugesehen. Doch Mühlthal begreift, was das Kind vor ihm aufs Papier kritzelt. Einen Drachen, der mit seinem Feuer und seinen Zähnen und seinen Krallen alles zerstören kann. Wirklich alles. Ganze Städte, kleine und große Menschen, sogar Bären und Wölfe. Und dieser Drache bleibt natürlich unverletzt und überhaupt unbesiegbar, denn sein Panzer ist überall mit messerscharfen Stacheln und giftigen Zacken besetzt. Fliegen kann er wie ein Adler und schwimmen wie ein Hai. Es ist nichts Ungewöhnliches, was ihm der Kleine mit seinem Bild erzählt. Fast alle Kinder seines Alters malen irgendwann Monster, unvorstellbar böse und stark. Es ist sogar wichtig für ihre Entwicklung, etwas derart Monströses zu erfinden. Auch das ist Mühlthal klar. Er freut sich regelrecht, wenn sie auftauchen, die Ungeheuer, weil er dann weiß, das Kind sucht sich jetzt einen Weg aus seiner Ohnmacht heraus. Aus der gewaltigen Wut, die es sonst innerlich zerfetzen würde, das Kind. Aber der Junge heute, der kleine Joe, der war tatsächlich in Gefahr. Das ist der feine Unterschied, dachte Mühlthal, dass es Mädchen und Jungen gibt, die mit Riesen zusammenleben, die böse sind und brutal. Und unbesiegbar. Er würde auf den richtigen Moment warten müssen, um Joe zu sagen, was er sieht. Wie sehr er selbst sich vor diesem entsetzlichen Drachen fürchtet. Wie gern er Joe vor ihm beschützen wolle. Das geht nicht, schreit das Kind, keiner kommt davon. Alle werden tot gemacht. Du auch. Mühlthal sagt, du hast Recht, Joe. Aber wir können uns doch vor ihm verstecken. Nein, nein, nein, brüllt Joe und zerfetzt das Blatt mit seiner Zeichnung. Er sieht alles, er kann uns riechen, er findet uns überall und frisst uns auf. Der Junge beginnt zu toben, fegt die Stifte vom Tisch, reißt Farbtuben und Malkästen aus den Schüben und schmeißt sie um sich. Mühlthal rechnet jederzeit mit Joes Angriff auch auf ihn. Er bleibt ruhig sitzen und redet mit ihm. Er stellt fest, was er sieht, und sagt es. Du bist aber richtig wütend und wie stark du bist, wie der Drache auf deinem Bild. Ob der Junge ihn überhaupt hört, weiß er nicht. Er muss aufpassen und eingreifen, bevor Joe sich verletzt oder etwas kaputtmacht. Mühlthal steht auf und geht zu der Kiste mit den Figuren, mit denen Joe früher manchmal gespielt hat. Ich möchte dir was zeigen, Joe. Er holt zwei Dinosaurier heraus und lässt sie gegeneinander kämpfen. Einen großen gegen einen kleineren. Während das Kind weiterhin durch den Raum rast und Sachen herumschmeißt. In Mühlthals Spiel besiegt der Große den Kleinen und frisst ihn auf. Immer und immer wieder. Joe hat jetzt aufgehört zu wüten und steht neben ihm. Er reißt Mühlthal die Figur aus der Hand, die größer und stärker ist, und schleudert sie an die Wand. Er rennt hin, hebt sie wieder auf, wirft, rennt hin, greift sie sich und schmeißt, brüllt, ich vernichte dich, ich töte dich. Wieder und wieder. Bis der Dinosaurier hinter ein Regal fällt. Joe kommt nicht mehr dran, was er auch versucht. Er schreit, jetzt kommst du nie wieder raus, du scheiß Dino, du verhungerst, verdurstest, ganz genau, gleich bist du tot. Der Junge ist verschwitzt und erschöpft. Er hat sich auf den Boden gesetzt. Mühlthal sagt, jetzt hast du ihn besiegt, Joe, genau wie Superman. Und hier, den hast du gerettet. Er hält ihm die kleine Spielfigur hin und fragt, magst du auf ihn aufpassen. Ich glaube, er ist nur bei dir in Sicherheit. Dabei denkt er, hoffentlich klappt es und er nimmt ihn mir ab. Joe zögert. Er wirkt verlegen. Mühlthal sagt, nimm ihn, er will zu dir, schließlich weiß er jetzt, dass du ihn beschützen kannst. Er sagt nicht, ich schenke ihn dir. Endlich greift das Kind zu und steckt den Dinosaurier blitzschnell in seine Hosentasche. Hilfst du mir noch beim Aufräumen, fragt Mühlthal. Er fragt das eigentlich immer am Schluss. Bei allen Kindern. Joe und er stellen also alles wieder zurück an seinen Platz. Mühlthal nimmt zum Abschied die Hand des Jungen in seine und sagt, ich freue mich, wenn du übermorgen wiederkommst. Joe lächelt kurz und geht. Sobald er weg ist, sammelt Mühlthal die Fetzen der Zeichnung ein. Er klebt sie säuberlich zusammen und legt sie unter die Presse, damit sie möglichst glatt ist, wenn Joe wieder da ist.


 

 

9:00 Lena

Sie sitzen sich gegenüber. Jeder hat ein mittelgroßes Blatt vor sich. Mittelgroß bedeutet weder groß noch klein. Mühlthal meidet Normgrößen. Er bestellt Riesenbögen und schneidet sie selbst zurecht. Fünf Formate, sehr klein, klein, mittel, groß und sehr groß. Die Hälfte quadratisch, die andere rechteckig. Lena kennt das mit dem Gegenübersetzen schon. Sie will nichts anderes, als ihm gegenübersitzen und warten, bis er loslegt zu zeichnen. Dann beginnt auch sie. Das Mädchen steckt am Anfang der Pubertät. Sie kommt seit einem Jahr zu Mühlthal, weil ihre Traurigkeit nicht verschwindet. Es gibt keinen besonderen Auslöser dafür, sagt sie selbst, oder sie meint, keine Ahnung. Sie hat von den meisten Dingen, die sie selbst betreffen, keine Ahnung. Was sie allerdings ahnt, das ist, dass sie das meiste schwerer nimmt als andere. Lena ist eine stille Person. Für sie wird es schnell zu laut. Sie zuckt sofort zusammen, wenn draußen ein Martinshorn ertönt oder die Eingangstür zugeworfen wird, sogar beim Schaben der Stuhlbeine über den Boden fährt sie zusammen. Mühlthal redet seinerseits weniger als sonst und spricht vor allem automatisch leise. Er fragt vertraute, kurze Fragen, die sie nicht ausführlich beantworten muss. Vor allem aber lauscht er in ihre Richtung, selbst wenn sie nichts sagt. Er nennt sie insgeheim die Zerbrechliche, weil sie so zart ist, dass sie durchsichtig wirkt, fast unsichtbar oder kurz vor dem Verschwinden. Mühlthal ist also noch vorsichtiger als er es sowieso ist. Er zeichnet am Anfang immer etwas Ähnliches. Eine geometrische Figur in der Mitte des Papiers, die er entweder nach innen hin erweitert oder an manchen Tagen auch nach außen. Es beruhigt ihn und er hofft natürlich, dass es auch Lena beruhigt. Oder ihr das Anfangen erleichtert. Zumindest greift sie heute sofort nach dem Bleistift und beginnt am unteren linken Eck mit einer winzigen Zeichnung, über die sie ihre Haare hängen lässt oder ihre Hand davorlegt oder die sie wieder wegradiert, so dass er gar nichts sehen und beobachten kann. Sie beginnt immer unten links und traut sich nicht weiter aus der Ecke als bis etwa zu einem Drittel der unteren Blattkante. Selbst ihre Striche und Linien sind unfassbar zart. Mühlthal hat ihr schon ein paar Mal winzige oder kleine Formate angeboten. Aber sie hat jedes Mal den Kopf geschüttelt und höflich gelächelt. Als gehorche sie einer Spielregel, die vorschreibt, dass beide dasselbe mittlere Format benutzen. Er muss sich einfach gedulden, weiter hoffen und warten, dass sich Lena irgendwann aus dieser Nische heraustraut. Oder ausprobiert, wie es ist, wenn man bis zur Mitte gelangt und sich nach oben bewegt oder ganz nach rechts an den Rand. Wie er es ihr die ganze Zeit behutsam vormacht. Vor Mühlthal wächst diesmal so etwas wie eine Blüte über das Papier. Er überlegt, ob er Farben dazunehmen soll oder nicht. Aber er hat keine Lust drauf. Das Zentrum der Blüte verdichtet sich in einer Weise, die ihm fast wehtut. Er legt den Stift beiseite und schaut sich gründlich an, was er gezeichnet hat. Lena blickt hoch, weil sie denkt, er ist fertig und sie muss schnell zum Abschluss kommen. Aber er sagt, lass uns noch ein bisschen weitermachen, Lena. Etwas kommt ihm heute anders vor bei dem Mädchen. Nicht ihre über das Blatt gebeugte Haltung, als wolle sie im Papier verschwinden, ihre wie immer dunkle, neutrale Kleidung, die ein bisschen wie ein zu großes Federkleid aussieht. Nein, es ist, als wäre sie bereits mit einem Flirren zu ihm hereingekommen, in der Höhe der Brust bis zum Scheitel. Wie das Flimmern über heißem Asphalt, denkt er. Eine Elektrizität, die ihn ein wenig nervös macht, nicht unangenehm, aber eben eigenartig unruhig, stellt er fest. Zum ersten Mal ist sie es, die an diesem Tag von sich aus aufhört zu zeichnen. Er hört sie sagen, ich bin eigentlich schon fertig. Fast hat sie ihn damit erschreckt. Wow, sagt Mühlthal lauter als sonst, heut‘ bestimmst ja du das Tempo. Das find‘ ich gut. Auch Lena scheint das gut zu finden. Sie schaut ihm kurz in die Augen und lächelt, wobei sie ihr Lächeln gleich wieder verstecken will. Er steht jetzt auf, legt sein Blatt neben ihres und setzt sich in kleinem Abstand neben sie. Das ist der Abschluss. Sie sitzen nebeneinander und schauen sich ihre Bilder an. In ihrer Nähe wird jetzt das flirrende Gefühl noch stärker, bemerkt Mühlthal. Er konzentriert sich zunächst auf Lenas Zeichnung und beschreibt, was er sieht. Er sagt, ich sehe da zwei kleine Giraffen, vielleicht ganz junge Giraffen, die ihre langen, schlanken Hälse recken und mit ihren weichen Lippen die winzig kleinen Blätter eines Baumes fressen. Dabei hat die eine ihre Augen geschlossen, die Lider haben ganz elegant geschwungene Wimpern. Nein, eigentlich knabbern die beiden eher, oder, fragt er. Lena lächelt verlegen und sagt, ja, sie müssen aufpassen wegen der Dornen. Ah ja, ruft Mühlthal flüsternd, sofern beides gleichzeitig möglich ist, jetzt sehe ich sie auch, die kleinen Stacheln, und hier sogar, bei der einen Giraffe, ihre lange empfindliche Zunge, wie sie damit nach den Blättern tastet. Er hat sich noch näher zur Zeichnung gebeugt. Sie wird jetzt meinen Hinterkopf sehen, denkt er, und sicher auch meinen Geruch wahrnehmen. Es fühlt sich intimer an als sonst, stellt er fest, zweifelsohne, und richtet sich wieder auf. Er ergänzt seine Beschreibung und sagt, beide stehen dicht nebeneinander, mit ihren langen Beinen stehen sie im Gras, das irgendwie warm und weich ausschaut, finde ich. Das Mädchen nickt. Und dann streckt Lena vorsichtig die Hand aus und tippt auf etwas, was er offenbar übersehen hat. In der Krone des Baumes ist ein Nest versteckt, aus dem zwei Küken herausschauen, die kleinen Schnäbel weit geöffnet. Und erst beim zweiten Mal hinsehen erkennt Mühlthal dicht daneben einen großen Vogel, der die Kleinen füttert. Die ganze Szene berührt ihn, merkt er. Ganz friedlich ist das, sagt er leise. Ja, flüstert Lena jetzt, sie leben in der Savanne und werden trotzdem satt. Er schaut sie von der Seite an und freut sich. Das ist doch eigentlich ein Wunder, stimmt’s, sagt er. Und irgendwie finde ich das auch tröstlich. Lena nickt und schaut ihn wieder an. Dann wandert ihr Blick zu seiner Zeichnung. Das ist eine Zauberblüte, meint sie, und zwar deshalb, weil sie in der Mitte einen Diamanten trägt, einen magischen Stein, damit kann sie alles um sich herum verwandeln, also in was Schönes, Buntes. Das stimmt, du hast vollkommen Recht, sagt Mühlthal, und weißt du was, ich sehe das jetzt erst, wo du es gesagt hast. Danke dir, sagt er, das ist wie ein Geschenk. Ich muss zugeben, ich habe tatsächlich eine Weile lang überlegt, ob ich Farbe nehmen soll oder nicht, und was es mit dieser seltsamen Mitte auf sich hat. Die war mir irgendwie unheimlich. Aber was du da sagst, das macht total Sinn. Erst wenn die Blume nämlich ihren Diamanten preisgibt, bekommt die Blüte ihre Farbigkeit. Was denkst du, welche das sein könnte, fragt er sie, ganz beflügelt vom Gespräch mit ihr, wie es kein ähnliches je zuvor gegeben hat. Ich glaube, es werden alle Rottöne sein, die man sich nur vorstellen kann, antwortet sie. Eine wunderschöne Vorstellung, Lena, sagt er. Er fühlt sich heute besonders verbunden mit dem Mädchen, stellt er fest. Er sagt zu ihr, du kommst mir heute anders vor, als wärst du irgendwie mehr da als sonst, viel wacher. Und du hast die Wüste in deinem Bild und das Triste in meinem in etwas Trostvolles und Schönes verwandelt, merkst du’s, fragt er sie. Lena ist ein bisschen rot geworden. Sie sagt, das stimmt. Und kannst du dir das selbst erklären, also was sich bei dir verändert haben könnte, woran das möglicherweise also liegt, fragt Mühlthal sie und befürchtet sofort, zu schnell nach vorn geprescht zu sein in seinem ganzen Überschwang. Tatsächlich schweigt Lena, schaut vor sich hin. Immerhin, denkt er, sie sagt nicht wieder bloß, keine Ahnung. Dann blickt sie Mühlthal wieder direkt an und meint, ich habe den ersten Preis gewonnen, bei so einem Schreibwettbewerb für Schüler. Für mein Kinderbuch. Das handelt von zwei Giraffen, die Geschwister sind und völlig allein, ohne ihre beiden Eltern in der Steppe überleben müssen. Die Eltern sind in einem Buschfeuer umgekommen. Ich habe auch Zeichnungen dazu gemacht, wie die da, Lena zeigt auf ihr Blatt. Mühlthal würde das Mädchen gern umarmen vor Freude und Stolz. Das ist ja ganz fantastisch, jubelt er, ich gratuliere dir. Ich wusste ja überhaupt nicht, dass du auch Geschichten schreibst. Lena schaut glücklich aus, denkt er. Doch dann taucht in ihm plötzlich ein Schatten auf, den er lieber rasch verscheucht hätte. Seine Sorge, das Mädchen könnte diesen Diamanten von heute bald wieder vergessen. Und erneut an ihrer Fähigkeit zweifeln, Licht ins Dunkle bringen zu können.

 

10:00 Justus

Das neue Buch ist voll. Mühlthal nimmt es entgegen, als Justus es ihm hinhält. Eher hält der es unschlüssig vor sich hin und schaut ihn an, über den Rand seiner goldgefassten Brille, die zu einem Sechzigjährigen gepasst hätte, nicht zu diesem schlaksigen Jungen von sechzehn, findet Mühlthal. Überhaupt schien der aus einer anderen Epoche gefallen. Beide setzen sich nebeneinander auf die Couch. Darf ich, fragt Mühlthal und legt die Hand auf das Buchcover, und Justus nickt. Vielmehr macht er eine Bewegung mit dem Kopf, die an sich vieldeutig ist, ein Mir-egal oder Machen-Sie-was-Sie-wollen oder Falls-Sie-Lust-haben. Am Anfang hat Mühlthal diese Uneindeutigkeit, dieses fast desinteressierte Unbestimmte verunsichert und gar nicht selten auch verärgert. Er weiß bis heute nicht, woran er bei Justus ist. Und der Junge scheint vielleicht genauso wenig zu wissen, denkt Mühlthal, woran er bei mir ist. Und kommt trotzdem wieder. Nicht regelmäßig, aber etwa zu jedem zweiten Termin. Wenn die Skizzenbücher gefüllt sind, die Mühlthal ihm gibt und ihn dazu ermuntert weiter zu zeichnen. Er blättert die letzte Seite auf, weil Justus meist mit der letzten Seite anfängt. Wie zum Trotz von hinten her. Aber das Blatt ist überraschenderweise leer. Er versucht sich ein Auflachen zu verkneifen, auch weil er nicht weiß, was hinter der leergebliebenen Seite steckt. Was also die Botschaft des Jungen ist, der ihm ja gesagt hat, das Buch sei voll, und der auch sonst nicht einen weißen Fleck stehenlässt, wenn er zeichnet. Doch dann entdeckt er, dass das Papier durchsiebt ist, übersät und perforiert von hauchfeinen Löchern. Mühlthal hält es gegen das Licht und erkennt eine Struktur, die ihn an die anderen Bilder des Jungen erinnert. Eine Struktur, die das Chaos zeigt. Er sagt, eine originelle Idee, zumindest auf den zweiten Blick. Blättert um. Überlegt, wie lange er bei jeder der fünfzig Seiten verweilen sollte, um Justus sein aufrichtiges Interesse zu bekunden, ohne gleichzeitig den Kontakt zu ihm zu verlieren. Eine Balance, die ihm auch heute nicht leichtfällt, zumal der junge Mann ständig mit einem Bein wippt und seine Hände knetet, bis die Gelenke knacken. Er betrachtet die Bleistiftknäuel, Kohle-Cluster, Wolken aus Bleistiftstaub und ins Papier gestanzte, geschabte und gerissene Spuren, die ihm anfangen wehzutun. Er sieht Justus vor sich, wie er vorgegangen sein würde. In einer Art Trance oder besessener Raserei, angestoßen und getrieben zu unstillbarer Eruption, der das Material wie Lava um sich herum verspritzt, auf den Tisch, ins Gesicht, haltlos selbst im schlagartigen Innehalten, wie ein Springer auf hoher Klippe. Danach unfassbar sanft die Rückkehr seiner nächsten Zeichenspur, wie eine Geste des Mitleids oder der Reue. Jede Regung kommt aus demselben Quell, denkt Mühlthal, der das Anwachsen seiner eigenen Pein jetzt kaum mehr ertragen kann. Sein Mitgefühl mit Justus und seine Angst um ihn, diesen Seiltänzer, der verspielt kritzelt wie ein kleines Kind und zugleich mit der Verzweiflung eines Sterbenden, dem Schmerz und Todesfurcht in die Hand diktieren. Er weiß, dass der Junge sich wünscht in seiner Qual gesehen zu werden, vielleicht sogar den Betrachter zu quälen, indem er ihn zum Zeugen seines unaufhaltsamen Höllenritts macht. Mühlthal denkt fieberhaft darüber nach, was er ihm gleich sagen soll. Ob es ausreicht zu beschreiben, was er sieht oder welche Assoziationen er dazu hat. Oder ob er die Freiheit des ungebremsten Ausdrucks bemerkenswert finden soll, die ästhetische Kraft in einigen der Grafiken, unkonventionell, provokant direkt und rebellisch. Aber so etwas hat er ihm bereits zu oft gesagt. Er klappt das Buch zu und schaut vor sich hin. Justus unterbricht sein Wippen und Kneten und betrachtet Mühlthal von der Seite. Hier, sagt der nach erneutem Blättern, die Tiefe in diesem Blatt hat mich besonders berührt und beeindruckt, ja, mir kommt es vor, als würde ich auf die Oberfläche des Meeres blicken und die darunterliegende Untiefe erahnen. Es ist fast wie ein Sog, man möchte hineinspringen. Du hast Pastellkreide benutzt, stimmt’s, fragt er nach einer kleinen Pause. Justus nuschelt etwas, was er nicht versteht. Er bittet ihn, es zu wiederholen, wobei er ihm ins Gesicht sieht. Er hat große, runde Augen, wie blaue Glasmurmeln, stellt Mühlthal fest. Ich hasse Pastell, sagt der Junge laut. Und das da gefällt mir überhaupt nicht. Er zeigt verächtlich auf die Seite, wie ein Kaiser auf einen Untertanen. Na gut, sagt Mühlthal, das merkt man deiner Zeichnung gar nicht an, also zumindest ich merke es nicht. Obwohl mich deine Arbeiten auch diesmal sehr bewegt haben, eigentlich haben sie mich eher erschüttert, muss ich dir gestehen. Der Fuß des Jungen beginnt erneut zu wackeln und er schaut mit zurückgelegtem Kopf aus dem Fenster, als langweile er sich. Mühlthal fängt innerlich zu schwimmen an. Das kennt er. Es ist unangenehm, aber es gehört zu seinen Begegnungen mit Justus, den er seit zwei Jahren kennt. Von dem heute eine nahezu bestrafende Kühle und Ignoranz ausgehen, die ihn selbst einen Augenblick lang in den Zustand des einsamen und lebensmüden Sechzehnjährigen versetzen. Sag mal, fragt Mühlthal, tut es dir denn nach wie vor gut, so für dich zu zeichnen. Der Junge wirkt überrascht und schaut ihn an. Wieso fragen Sie das, sagt er. Ohne Vorwurf, eher verwundert. Du weißt, ich fände es besser, wenn du hier bei mir zeichnen würdest und nicht immer bloß in deinem Zimmer, ergänzt Mühlthal. Ich befürchte, ehrlich gesagt, dass du ganz allein den Halt verlieren könntest. Deswegen habe ich gefragt. Justus schüttelt den Kopf. Wenn ich zeichne, vergesse ich den ganzen Scheiß. Und wenn Sie den Kram dann anschauen und was dazu sagen, dann macht es irgendwie Sinn. Mühlthal ist überrascht. Vielleicht hätte er ihn früher fragen sollen. Oder schlicht anerkennen können, dass der Junge immer wieder zu ihm kommt. Das klingt gut, Justus, sagt er. Ich hatte heute das starke Gefühl, dass Du mir allmählich entgleitest oder bald überhaupt nicht mehr da bist. Er sieht dem Jungen in die Augen, die ihm noch immer keine Regung verraten. Ein Meeresgrund, denkt er, irgendwann wird er sich töten. Diese Gewissheit plötzlich, sie macht ihm Angst. Er steht auf, holt ein neues Skizzenbuch aus dem Regal und gibt es ihm. Sehen wir uns nächste Woche, fragt er. Justus zuckt mit den Schultern und erhebt sich. Denk schon, sagt er, danke dafür. Er steckt das Buch in seinen Beutel und geht zur Tür hinaus, ohne Mühlthals ausgestreckte Hand zu sehen.

 

 

11:00 Mirjam (Miri)

Das Kind taucht lautlos auf, kommt hereingehüpft. Alles an ihm ist bunt. Die Haarklammern, der Pulli, die Strumpfhose, die kleinen Prinzessinnenschuhe, die Fingernägel. Und Mirjam bringt einen bestimmten Geruch herein, den Mühlthal vor allem am Anfang wahrnehmen kann. Nach kaltem Zigarettenrauch, Essen und besonders stark nach Urin. Diesmal ist er stärker als sonst. Er überlegt, das Mädchen vorher auf die Toilette zu schicken. Aber was sollte das schon bringen, denkt er, sie ist vier und nässt ein. Das Ganze macht ihn traurig und hilflos. Komm, wasch dir die Hände, dann darfst du gleich anfangen. Es ist ein Ritual, dieses Waschen. Die Kleine lässt das warme Wasser lange über ihre Hände laufen. Ihre Finger spielen mit dem Strahl und sie summt eine Melodie dabei. Mühlthal hält ihr das Handtuch hin. Das Mädchen trocknet sich ab mit derselben Verträumtheit wie eben, legt das Tuch ins Becken und springt zum Tisch, wo er ihr bereits eine Holzkiste hingestellt hat, die mit Ton gefüllt ist. Mirjam setzt sich und bohrt mit den Fingerspitzen am Innenrand entlang vorsichtig kleine Löcher in die weiche Masse. Sie beobachtet, wie ihre Fingerchen darin versinken und mit einem winzigen Schmatzgeräusch wieder auftauchen. Der Rhythmus scheint ihr zu gefallen, sie wiederholt den Vorgang immer wieder. Mühlthal sagt, du bist ja heute eine richtige Tänzerin. Sie lächelt verlegen und lässt ihre Hände von der Seite weg in die Mitte tippeln, wo sie tatsächlich eine Weile lang auf der glatten Oberfläche umhertanzen. Die Kleine summt wieder, ihr Körper gerät in Bewegung, sie rutscht vom Stuhl, stellt sich auf die Zehenspitzen und greift jetzt mit beiden Fäusten kraftvoll in den Ton, quetscht, knetet und lässt ihn schließlich neben die Kiste auf den Tisch fallen. Mühlthal ruft leise, das ist ja toll, wieviel Kraft du hast, Miri, und schau mal, da bist du schon ganz auf den Boden gekommen. Ja, mach weiter, ermuntert er das Kind. Das inzwischen leise keucht vor Anstrengung, mit roten Wangen weiterschuftet, bis die Kiste ganz leer ist. Sie setzt sich hin, legt ihre Hände flach auf den Holzboden und fragt, kannst du mich eingraben. Mühlthal beugt sich über den Tisch und beginnt Mirjams Hände sachte mit dem Ton zu bedecken. Er wartet, bis sie weiter, noch mehr, zu ihm sagt. Drückt sanft auf den anwachsenden Haufen und ihre vergrabenen Hände, bis sie ruft, fester, fester. Und dann sagt, genug. Sie hält still. Mühlthal hört den aufgeregten Atem des Kindes. Das versucht die Hände unter dem Gewicht des Tons zu bewegen und zu befreien. Mirjam quietscht, als es ihr schließlich mit einem Ruck glückt. Guck, eine Höhle, ruft sie. Mühlthal bewundert die Höhle und fragt sie, ob das eine sichere Höhle sei und wer denn da wohne. Was meinst du, fragt er. Sie hat ihre Hände wieder in den Hügel gesteckt. Eine zieht sie jetzt heraus, um das Dach der Höhle festzuklopfen und zu glätten. Mühlthal schaut zu, wie der Zugang stabilisiert wird, ein Guckloch entsteht und wie eine rasch geformte, kleine Kugel im Berg verschwindet. Das ist ein Kind, erklärt Mirjam, das lebt da drin ganz allein. Keiner kann das Kind von außen sehen. Weil auch der Eingang unsichtbar ist. Während sie das sagt, zupft sie Fetzen vom Ton ab und verschließt damit das Loch. Hat denn das Kind da was zu essen und zu trinken, fragt Mühlthal. Das Mädchen nickt. Schau hier, durch diese Luke bekommt es die Nahrung. Mirjam beugt sich über die Kiste und schaut selbst nach der Nahrungsluke. Und wer bringt ihr das alles, will er wissen. Sie schweigt, als wissen sie nicht recht, wer das Kind in dem Berg versorgt. Ihre Ratlosigkeit berührt Mühlthal und er schlägt vor, die Mama vielleicht. Die Kleine antwortet sofort. Nein, nicht die, der Papa bringt es. Ja, genau. Auch Spielsachen und Schokolade. Und spielt er denn mit seinem Kind oder besucht es mal in seiner Höhle, fragt Mühlthal, den ihre Antwort nachdenklich gemacht hat, weil er weiß, dass Mirjams Vater Frau und Kind verlassen hat. Nein, er wartet, bis sie groß ist, sagt sie, und dann holt er sie da raus. Aha, also ist das Kind noch ein ziemlich kleines Mädchen, meint Mühlthal überrascht. Hab‘ ich doch schon längst gesagt, meint Mirjam empört. Oh, da habe ich nicht richtig aufgepasst, entschuldigt er sich und fragt weiter, und was ist, wenn sie groß ist und ihr Papa sie herausgeholt hat, wie geht es dann weiter. Sie schaut ihn entschlossen an und sagt, sie heiraten und fliegen danach um die ganze Welt. Nur die beiden, fragt er. Ja natürlich, meint sie, sie sind ja schließlich jetzt ein Liebespaar. Mühlthal überlegt kurz, ob er sich nach der Mutter erkundigen soll, die das Liebespaar dann zurückgelassen hätte, lässt es aber bleiben. Es ist nicht ungewöhnlich, denkt er, dass ein Mädchen in Mirjams Alter davon träumt, den Papa zu heiraten. Selbst wenn es diesen Papa real nicht gibt, sondern nur in der Fantasie. Was Mühlthal allerdings alarmiert hat, ist die Unsichtbarkeit des Mädchens in der Höhle und die Mutter, die nicht kommt, um ihr Kind zu versorgen. Er fragt Mirjam, die aufgestanden und zum Waschbecken gegangen ist, ob sie manchmal auch so alleine sei wie das Kind in der Höhle. Während sie ihre Hände unters Wasser hält, verrät sie ihm, dass ihre Mutter sie oft im Zimmer einsperren müsse, wenn sie draußen etwas zu erledigen habe. Ich darf eigentlich nicht allein in der Wohnung bleiben, aber es geht nun mal nicht anders, sagt meine Mama. Es klingt vernünftig und wie das Normalste auf der Welt, denkt er bekümmert. Er fragt sie nicht, ob sie dann nicht große Angst habe oder wie lange sie auf die Rückkehr ihrer Mutter warten müsse. Ob sie auch immer genug zu essen und zu trinken habe. Er sagt nur, ich finde, du bist sehr tapfer, Mirjam, und ich freue mich, wenn du das nächste Mal wiederkommst. Innerlich beschließt er, doch davor lade ich die Mutter ein und spreche mit ihr in aller Deutlichkeit über ihre kleine Tochter. Als sie fort ist, öffnet er das Fenster, räumt auf und schreibt in den Kalender, Mirjams Mutter. Er setzt drei Ausrufezeichen dahinter.

 

 

13:00 Paul

Er steht im Gang vor seiner Tür. Wie ein Fels, ein Koloss, an die Wand gelehnt. Mühlthal schaut auf die Uhr und wartet, bis der Sekundenzeiger exakt auf zehn Uhr springt. Dann öffnet er Paul und sagt zu ihm, pünktlich wie immer, komm nur herein. Der Junge ist sehr dick und schämt sich dafür, das weiß Mühlthal nicht zuletzt deshalb, weil er als Junge ebenfalls dick gewesen ist und erleben musste, was dranhängt, wenn man unter Kindern das einzige ist, das dicker ist als die anderen. Paul hat immer seinen Militärrucksack dabei, in dem er Limonade, Kekse und eine etwa dreißig Zentimeter große Plastikfigur mitbringt. Spiderman. Mühlthal geht voran, setzt sich ans Kopfende des Tischs und wartet, bis der Junge hereingeschlurft ist und die Tür leise geschlossen hat. Wie geht’s Spidy, fragt er Paul, der sich ihm gegenüber ans andere Tischende gesetzt und gerade die Dinge aus seinem Rucksack vor sich aufbaut. Zuletzt Spidy, der Mühlthal anschaut und ihm seine Spinnfäden entgegenschleudert. Daneben eine aufgerissene Packung Schokokekse einer ganz bestimmten Marke und eine 1,5 Literflasche mit Limo einer ganz bestimmten Marke. Paul schwitzt und schaut vor sich hin. Er trägt einen zu großen Hoodi, immer denselben, mit dem Emblem von Superman vorne drauf, die Kapuze hat er noch auf. Es ist still im Raum. Die Stille wird Paul unangenehm sein, denkt Mühlthal und erkundigte sich noch einmal nach Spidy. Gut, sagt der Junge. Konnte er denn in der letzten Woche wieder jemanden retten, fragt Mühlthal. Ja, sagt der Junge. Und wen, fragt Mühlthal. Ein Mädchen, antwortet Paul. Kennst du sie, will Mühlthal wissen. Paul nickt. Mühlthal steht auf, holt ein Stück mittelgroßes Papier, Buntstifte und ein Trinkglas, stellt alles vor den Jungen, und zwar vor den Wall aus Keksen, Flasche und Spidermanfigur. Während Mühlthal alles vorbereitet, hat der Junge die Mütze vor sein Gesicht gezogen und den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Das macht er immer so. Er richtet sich erst wieder auf, als Mühlthal wieder auf seinem Platz sitzt. Na, dann bin ich gespannt, wie Spidy das Mädchen gerettet hat. Lass dir ruhig Zeit, mein Guter. Mühlthal hat festgestellt, dass Paul sich entspannt, wenn er ihn so anspricht. Mein Guter. Und ich male derweil, was ich seit unsrem letzten Treffen erlebt habe, sagt er, einverstanden. Paul nickt. Er schiebt vorsichtig die Kapuze vom Kopf, zieht Papier und Stiftkasten zu sich. Wie ein Krebs seine Beute, denkt Mühlthal, spitzt seinen Bleistift und holt sich ebenfalls ein mittelgroßes Blatt. Der Junge hat bereits zu zeichnen begonnen. Es fällt Mühlthal nicht leicht, ihm nicht dabei zuzuschauen, was er viel lieber täte, als selbst etwas zu zeichnen. Zumal ihm gar nichts einfallen will, was er dem Fünfzehnjährigen in seinem Bild erzählen könnte. Er mag es, wie leicht Paul sich vertiefen kann, wie lebendig er wird, wenn er ein neues Abenteuer von Spidy zeichnet. Blau, Rot, Schwarz und Weiß. Normalerweise benutzt er keine andere Farbe. Mühlthal nimmt sich vor, den Brand von letzter Nacht zu malen. Eine Imbissbude auf dem Platz in der Nähe war abgefackelt. Mühlthal und viele Nachbarn waren in Schlafanzügen und Morgenmänteln auf die Straße geeilt und hatten dem Feuerweheinsatz zugeschaut. Brandstiftung, hieß es. Wie im Film, denkt er, Spiderman hätte das bestimmt verhindert. Paul hat sich nebenbei etwas eingegossen und mit großen, schmatzenden Schlucken ausgetrunken. Er zeichnet wieder. Die Limonadenpfütze, die unter sein Blatt rinnt, scheint ihn nicht zu stören. Mühlthal linst unbemerkt auf die Uhr, er muss sich beeilen. Sein Bild ist von gelben und roten Flammen bedeckt, zwischen denen kleine Schattenwesen stehen, eine schwarze Ruine, ein dunkles Löschauto. Er fragt sich, weshalb er die Vogelperspektive gewählt hat. Vielleicht weil er höllische Angst hat vor Feuer, überlegt er. Paul hat aufgehört zu zeichnen und knubbelt am Etikett der Limoflasche herum. Dann schiebt er die Stifte wieder vor die Schachtel, aus der er sich verstohlen mehrere Kekse herausnimmt, die er mit gesenktem Kopf möglichst leise zu essen versucht. Mühlthal macht daher Geräusche, indem er den Stuhl laut schabend nach hinten rückt, mit den Stiften klappert und das Fenster umständlich öffnet. Es regnet draußen, seine Wäsche auf dem Balkon wird nass, denkt er. Als er sich wieder zu Paul umdreht, sitzt der da, ein bisschen Schokocreme klebt an seiner Oberlippe. Er hat Mühlthal dabei beobachtet, wie er zunächst seine eigene Zeichnung an der Malwand befestigt hat und danach Pauls. Mühlthal dreht seinen Stuhl und setzt sich vor die Bilder, wobei er den Jungen gerade noch aus den Augenwinkeln sehen kann. Er meint zu erkennen, wie der seine Szene mit dem Feuer anschaut, während Mühlthal Pauls Zeichnung betrachtet. Mühlthal fängt an zu sprechen. Er muss anfangen, damit der Junge sich danach traut. Er erzählt ihm von dem Feuer, von seiner Panik und der Angst seiner Nachbarn, von dem heldenhaften Einsatz der Feuerwehr. Er erkennt plötzlich, dass sein Bild genauso viel mit Paul zu tun hat, wie mit ihm selbst. Das wäre mit Spidy sicher nicht passiert, oder, fragt er mit leicht zur Seite gedrehtem Kopf. Nein, sagt der Junge, auf keinen. Er hätte den Brand bereits im Keim erstickt, meint Mühlthal. Ja, das hätte er, auf jeden, der hätte das verhindert. Und bei dir, sagt Mühlthal, da sehe ich eine hohe Brücke, darunter einen breiten Fluss. Und ein kleines Mädchen in einem rosa Kleid, das von der Brücke fällt. Aber Spiderman hat es sofort aufgefangen in einem Netz, hat es noch im Fallen gerettet, richtig, fragt Mühlthal. Ja, das Mädchen hat da oben auf der Brüstung herumgeturnt und ist auf einmal runtergestürzt. Der Junge hat mehr geredet als sonst, stellt Mühlthal fest. Und du bist dabei gewesen, fragt er ihn. Ja, hab’s genau gesehen, sagt Paul. Das muss ein ganz schöner Schreck für dich gewesen sein, meint Mühlthal. Warst du da auf der Brücke, als das passiert ist. Er steht auf und tritt an Pauls Bild heran. Oder warst du da unten. Er deutet vage auf das Flussufer, das seltsam vertikal gekippt fast ein Kreuz mit der Brückenachse bildet. Auch der Junge hat die Außenperspektive gewählt, stellt er fest, und aus der Nähe kann Mühlthal erkennen, wie er alles mit einer zarten, aber deutlichen Gitterstruktur überdeckt hat, nicht nur Spidermans Rettungsnetz. Wir haben auf der Brücke gespielt, sagt Paul auf einmal. Aha, meint Mühlthal überrascht, und woher kennst du das Mädchen. Na, ist halt meine kleine Schwester. Paul nimmt sich noch einen Keks und isst. Also, du hast mit deiner kleinen Schwester da oben gespielt und sie ist plötzlich von der Brüstung gefallen, fragt Mühlthal, nicht ohne ein mulmiges Gefühl dabei zu haben. Wie heißt deine Schwester eigentlich, will er wissen. Eigentlich will er wissen, wie real die Szene wirklich ist. Lucie, antwortet Paul, die wollt halt da rauf und balancieren. Er klingt genervt. Großer Bruder, kleine Schwester. Und dann hat Lucie das Gleichgewicht verloren, fragt Mühlthal, und ist gefallen. Ist ja nicht so tief da, lenkt der Junge ein. Nur die Bachbrücke, beim Stadion die. Mühlthal nickt und fragt weiter, und dann ist Spidy plötzlich aufgetaucht und hat Lucie gerettet. Genau, sagt Paul. Ihr ist nix passiert. Wow, ruft Mühlthal, da hat sie aber richtig Glück gehabt. Genau, sagt Paul. Wie hat er das geschafft, also wie hat Spiderman das überhaupt mitgekriegt, fragt Mühlthal. Der Junge zuckt mit den Schultern und meint trocken, weil Spidy alles sieht und hört. Außerdem ist er mein Freund. Ja, das dachte ich mir, meint Mühlthal. Da kannst du echt froh sein, Paul. Uns kann nix passieren, sagt der Junge. Also, mir und meiner Schwester nicht. Und auch meiner Mutter und meinem Vater nicht, ergänzt er, raschelt mit der Kekspackung und verzehrt den letzten Cookie. Hast du denn deinen Eltern was von eurem Abenteuer erzählt, fragt Mühlthal. Nö, ist ein Geheimnis von mir und Lucie. Paul hat angefangen seine Sachen in den Rucksack zu packen. Hat die Kapuze aufgesetzt. Na dann, sagt Mühlthal, ist wohl schon wieder so weit. Er schaut auf die Uhr. Wir haben noch drei Minuten und sechsundfünfzig Sekunden. Ich lege dein Bild in deine Mappe, ist das okay, fragt er den Jungen, der leicht nickt. Mühlthal geht zum Schrank, schließt ihn auf, holt Pauls Sammelmappe heraus, die an allen drei Seiten mit einer Schnur gesichert ist. Er löst die Zeichnung von der Wand und legt sie mit der Vorderseite nach unten zu den anderen. Als er den Schrank wieder zuschließt, steht der dicke Junge bereits an der Tür. Beide warten ab, bis der Sekundenzeiger auf Mühlthals Armbanduhr auf elf springt. Pass auf dich auf, mein Guter, sagt er. Paul bewegt sich rückwärts nach draußen und schließt die Tür ganz leise hinter sich. Mühlthal ist sich nicht sicher, ob er noch Tschüss gesagt hat oder nicht.

 

 

14:00 Karlotta-Elise (Eli)

Sie kommt am längsten von allen zu ihm. Mit dreizehn zum ersten Mal. Vor zwei Wochen ist sie neunzehn geworden. Wie die Zeit vergeht, denkt Mühlthal. Er erinnert sich noch genau an die erste Begegnung mit Eli. Ihre Mutter hatte sie begleitet und sich beim Abschied nicht von ihrer Tochter lösen können. Es sah eher aus, als sei Eli die Mutter, nicht umgekehrt. Mühlthal hatte das damals irritiert. Erst nach und nach würde er begreifen, wie tragisch und verhängnisvoll diese Verbindung tatsächlich für beide war. Nachdem dann die Mutter endlich fort war, huschte das Mädchen zum Tisch, stand da und schaute ihn an. Ich heiße Eli, stellte sie sich vor. Ich mag meinen vollen Namen nicht, erklärte sie ihm mit heller, nahezu unhörbarer Kinderstimme. Soweit er sich richtig entsinnen konnte, hatte er ihr eher banal geantwortet, so etwas wie, freut mich dich kennenzulernen, Eli. Noch nie aber hatte er ein so mageres Wesen gesehen. Wirklich noch nie. Und in den sechs Jahren seither ist sie kaum gewachsen und immer noch unbeschreiblich dünn. Damals schaute sie aus wie eine Siebenjährige, überlegt Mühlthal, heute wie ein Mädchen von zwölf, höchstens dreizehn. Doch in Eli gibt es schon immer eine Kraft, vielmehr ist es ein unbeugsamer Wille, den Mühlthal insgeheim tief bewundert, obwohl er ihn auch gnadenlos und grausam findet. Er wird daher seine Angst nicht los, die Willenskraft könnte eines Tages siegen und Eli töten. Wie ein gewaltiger Fuß, der einen Schmetterling unter sich zermalmt. Zumindest ist das auch ein wiederkehrendes Motiv in Elis Zeichnungen. Wobei es nie ein Schmetterling ist, sondern eine Schabe oder eine Assel. Eli steht bereits vor der Staffelei. Sie versorgt sich selbst mit Material. Weiß besser, wo alles steht und liegt als er. Eigentlich ist das hier ihr Atelier, denkt Mühlthal zufrieden, nicht meins. Er stellt sich neben sie an die Malwand. Versucht zu rekonstruieren, seit wann Eli im Stehen und auf großen Formaten arbeitet, wann sie begonnen hat Leinwand und flüssige Farben zu benutzen. Noch nicht lange jedenfalls, stellt er fest. Und seit damals ist es dieses Arrangement, also dass sie nebeneinanderstehen und dieselben Farben verwenden, sich die Pinsel teilen wie auch das Wechseln von Wasser und das Säubern der Werkzeuge zwischendurch. Mühlthal muss sich bewusst machen, was in den Jahren geschehen ist, was sich bei Eli und auch bei ihm selbst verändert hat. Wie das lebensbedrohlich magere Mädchen von damals, das scheu war wie ein Nachttierchen und oft ängstlich auf die Uhr sah, nach der Mutter fragte, das kein anderes Format ertrug, als nur die Hälfte des allerkleinsten, und mit keinen anderen Stiften zeichnete, als mit den spitzesten Blei- und Buntstiften, wie dieses Mädchen eines Tages plötzlich aufgestanden war, um an die Staffelei zu wechseln. Mühlthal um eine quadratische Leinwand zu bitten und ihr den Umgang mit den fließenden Gouachefarben zu zeigen. Allein, dass sie mich um etwas gebeten hat, denkt Mühlthal, das war schon sensationell. Eli steht jetzt neben ihm und malt. Es sind noch dieselben Themen, dieselbe Sprache. Ausweglose Verstrickungen, würgende Seile, unter der Haut verhakte Schnüre, ein tödliches Spinnennetz. Oder das gewaltsame Mästen eines winzigen Kindes durch ein Ungeheuer, das ihm unerbittlich Nahrung durch einen Schlauch einflößt. Oder dasselbe Monster, das die Adern des Kindes anzapft, es aussaugt, es schmarotzend ausweidet wie ein Vampir. Abgehackte Hände, gefesselte Beine, zugenähte Lippen, geblendete Augen. Elis Bilder sprechen unerträglich deutlich für sich, weiß Mühlthal, doch sie sieht es selbst noch immer nicht, erkennt nicht, dass all das Monströse und Vernichtende niemals von innen herauskommen könnte, wenn es ihr einst nicht auch angetan worden wäre. Auch wenn sie beide stundenlang darüber reden, was sie in den Bildern sehen, was sie fühlen und denken im Angesicht der Nachtmahr, der Höllen und der Folterszenen. Sie erfinden Geschichten dazu, deren Verlauf nie ein gutes Ende haben, so sehr sich Mühlthal auch anstrengt und bemüht. Indem er Prinzen heraufbeschwört, die das Mädchen retten, weise Zauberer, die das entsetzliche Ungeheuer verwandeln und verbannen, Freundinnen oder Freunde, die das Kind in ihre heile Welt entführen. Selbst in dem Jahr, als Eli und er gemeinsam Bilder zeichneten oder als sie ihre Zeichnungen nach einer Weile austauschten, um auf einer Haut Transparentpapier je darauf zu antworten, konnte er sie kein einziges Mal befreien oder retten. Nicht einmal die Avancen eines schönen Jungen mit einer Flöte, den er erfunden hatte, wollte sie erwidern. Phasenweise hatte ihn seine Ohnmacht, die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen regelrecht verzweifeln lassen, musste er zugeben. Sie schien ihn ausnahmslos immer zu besiegen. Bis er irgendwann begriffen hat, dass es genau darum gehen könnte. Sie musste ihre Willenskraft durchsetzen, diese allerletzte Bastion schützen, die keiner je erobern und einnehmen würde. Also war ihr Leiden, ihr Sterben, ihr Tod ein möglich letzter Wille, den allein sie bestimmen konnte. Keiner sonst. Rückblickend verwundert es Mühlthal nicht mehr, dass Eli kurze Zeit nach seiner Erkenntnis oder Einsicht oder Vermutung aufgestanden war, um nunmehr aufrecht und im Stehen zu malen. Kerzengerade. Zweimal pro Woche für anderthalb Stunden, wie sie es miteinander vereinbart hatten. Mühlthal arbeitet weiter an seinem Bild, das er vor Wochen begonnen hat. Ein Stier, der gezähmt und gebändigt wird von einem Priester, der darauf wartet, bis das heilige Tier ausgewachsen ist und geopfert werden kann. Es ist Mühlthal durchaus bewusst, wie innig sein Bild mit Eli verwoben ist, mit seinem Empfinden für diese junge Frau, die einer zerstörerischen Kraft ausgeliefert ist, der sie zum Opfer zu fallen droht. Auch Eli malt an einem Tierbild. Es ist ein Fuchs, der auf den Schultern einer mondän gekleideten Dame liegt, die den Betrachter wie durch eine Maske entgegenblickt. Unverwandt und kühl. Es ist allerdings nicht genau zu erkennen, ob der Fuchs in seinem prächtigen Kleid überhaupt noch lebt oder ob lediglich sein weiches Fell der edlen Frau als Schmuck dient. Als Mühlthal Eli hinterher dazu befragt, lächelt sie fast verschmitzt. Tja, das bleibt wohl offen, flüstert sie. Sie verraten mir ja auch nicht, ob der Stier das da überleben wird, antwortet sie. Eine intelligente Retourkutsche, findet Mühlthal, der sich vorgenommen hat, Eli heute etwas ganz anderes mitzuteilen. Eine große, eine wichtige Sache, für die er den richtigen Zeitpunkt abwarten muss. Er hat es sich eigentlich seit Wochen schon vorgenommen. Jetzt ist der Moment gekommen, denkt er. Er bittet Eli, sich ihm gegenüber an das kleine Tischchen vor der Couch zu setzen. Ich will dir etwas Wichtiges sagen, Eli. Die junge Frau wirkt erschrocken. Sie fragt, wollen Sie, dass ich nicht mehr zu Ihnen komme. Mühlthal hat mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet. Er schüttelt lächelnd den Kopf und sagt, um Himmelswillen, nein, wo denkst du schon wieder hin, Eli. Nein, es ist eigentlich etwas Schönes. Denke ich zumindest. Hör zu. Du weißt selbst, wie wichtig das Zeichnen und das Malen für dich sind. Eli nickt. Er wartet ihren Einspruch nicht ab, ihre Selbstentwertung. Er redet schnell weiter. Ich habe ein ziemlich gutes, zumindest ein erfahrenes Auge, worin die besonderen schöpferischen Stärken eines Menschen liegen. Und ich wiederhole mich, wenn ich dir auch jetzt sage, was ich dir ja schon oft gesagt habe, nämlich, dass du eine Künstlerseele hast. Du bist eine Künstlerin. Eli wirkt wie eingefroren, aber sie hält seinem Blick noch stand. Ist noch bei ihm. Mühlthal räuspert sich. Wie wäre es, wenn ich dir bei der Bewerbungsmappe für ein Kunststudium helfe. Was würdest du davon halten. Jetzt ist es heraus, denkt Mühlthal. Er hat sich damit weit aus dem Fenster gelehnt, das ist ihm klar. Ist vorgerannt und hat vor Eli einen neuen Raum betreten, ohne zu wissen, ob sie überhaupt die Schwelle übertreten kann. Oder ob Alice dem Kaninchen folgen wird, fällt ihm irgendwie dazu ein. Er wartet und sieht Eli an. Die den Kopf schüttelt und Tränen in den Augen hat. Ich bin nicht gut genug, sagt sie. Ich weiß, dass du so denkst, antwortet Mühlthal nach einer kleinen Pause, du bist überzeugt davon, nun, eine Kakerlake zu sein. Eli nickt. Aber meinst du nicht, fragt er, dass jemand von außen, jemand wie ich oder andere Menschen, die deine Arbeiten mögen und toll finden, dass deren Urteil hier auch etwas zählt. Eli schnäuzt sich und tupft ihr Gesicht ab, ich weiß nicht, flüstert sie, vielleicht. Anders gefragt, sagt Mühlthal, traust du mir zu, das beurteilen zu können, also dass du eine Künstlerin bist. Sie schaut ihn flüchtig an, lächelt ein wenig und zuckt mit den Schultern. Ich mache dir einen Vorschlag, vielmehr ein Angebot, sagt Mühlthal. Wir nehmen uns ab nächstem Monat ein halbes Jahr lang Zeit für deine Mappe. Ich spreche mit einer Kollegin, die an der Akademie unterrichtet. Die kann dich beraten. Sagen, worauf es zu achten gilt, dir vor allem aber zurückmelden, wie sie dich einschätzt. Übrigens kennt sie schon ein paar deiner Zeichnungen und fand die schon damals bemerkenswert. Sie hat gesagt, diese junge Dame hat Potenzial. Und das aus ihrem Mund. Mühlthal reißt sich zusammen, Eli nicht noch weiter zu loben. Weil er weiß, wie bedrohlich Anerkennung für sie ist, wie heftig sie jedes Lob bekämpfen muss und wie stark es ihre Selbstverachtung befeuern könnte. Also versucht er die vorsichtige Direktheit seiner kleinen Ansprache, die ihm gewagt vorkommt, etwas abzuschwächen und sagt, es ist bloß eine Idee. Oder ein Abenteuer, ein Experiment, wenn du so willst. Aber das Ganze würde zu jeder Zeit in deiner Hand liegen, Eli. Du kannst also dabei weder versagen noch dich blamieren. Das Mädchen hat inzwischen rote Flecken am Hals. Es schnieft und hockt mit gesenktem Kopf reglos vor ihm. Hinter einer Glaswand, die er allzu gut kennt. Sag mal, Eli, versucht Mühlthal einen neuen Anlauf und fragt, dein Bruder Constantin, der studiert doch jetzt in L., stimmt’s. Sie blickt auf und flüstert ein Ja. War es nicht immer schon dein Traum, mit ihm gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen und ein ganz neues Leben anzufangen, erinnert er sie. Er ahnt, das könnte sein letzter Trumpf für heute sein. Andererseits findet er seinen Einfall auch irgendwie großartig. Und in L. gibt es eine ausgezeichnete Kunstschule, wie du weißt, setzt Mühlthal nach. Er steht auf, bringt Eli ein Glas Wasser, sagt zu ihr, wer weint, muss was trinken. Ich sag es noch mal, du musst heute nichts entscheiden, auch morgen nicht. Musst überhaupt noch gar nix entscheiden. Das war anstrengend für dich heute, stimmt’s, fragt er sie leise. Eli trinkt einen kleinen Schluck, aus reiner Höflichkeit, denkt Mühlthal, und weil Wasser keine Kalorien hat. Sie wirft ihre Taschentücher in den Eimer und reicht ihm zum Abschied die Hand, eine kleine, heiße und kraftlose Hand, die er ein paar Mal sanft schüttelt. Bis bald, sagt Eli, bis übermorgen, sagt er. Und dann verlässt sie ihn. Ohne wie sonst aufgeräumt zu haben. Er steht eine Weile lang da und wird das Gefühl nicht los, gerade eben möglicherweise einen gravierenden Fehler gemacht zu haben. Ja, er könnte sich irren.

 

 

15:50 Luca

Nach Eli ist auch Luca schon eine Weile lang bei ihm. Fünf Jahre werden es sein, denkt Mühlthal. Der junge Mann schwärmt von Eli, seit er ihr zum ersten Mal vor dem Atelier begegnet ist. Er versucht ihr seither wieder zu begegnen, was nicht besonders schwierig ist, weil er genug Zeit hat, um stundenlang vor Mühlthals Tür herumzulungern. Ob Eli ihn mag, ist schwer zu erkennen. Zumindest geht sie ihm nicht aus dem Weg, redet mit ihm, wenn er sich überhaupt traut mit ihr zu reden. Das konnte Mühlthal schon öfter aus dem Fenster beobachten. An Elis Stelle würde es ihm nicht besonders gefallen von einem Freak verehrt zu werden, der immerzu denselben Parker trägt, einen Kofferrucksack und riesige Kopfhörer über den langen, lockigen und verfilzten Haaren. Außerdem riecht Luca oft stark nach Schweiß und manchmal nach Käsefüßen, weil er die Klamotten nicht wechselt und stets seine ausgetretenen Sneaker anhat, solange Mühlthal ihn kennt. Luca wird demnächst einundzwanzig und würde an dem Tag am liebsten mit Eli Eis essen gehen. Das hat er Mühlthal im Vertrauen gesagt. Immerhin verbindet die beiden die Liebe zur Musik der 60er und das Zeichnen. Nur dass Luca völlig andere Dinge zeichnet als Eli. Andere Monster. Luca erfindet Geschichten, die er mit seinen Cartoons bestückt, mit kleinen bösen, dünnen Mädchen, die Macheten und MGs tragen, Strapse unter Miniröcken und die trotz ihrer ausgeprägten Kindlichkeit riesengroße Brüste haben. Sie heißen Maggi und Nicki und Fanny und Betty, wobei Fanny verblüffende Ähnlichkeit mit Eli hat, findet Mühlthal. Oder Luca zeichnet Blackies, wie er seine aus einem spontanen Krickel herauswachsenden Ungeheuer nennt, blutrünstige Wesen mit scharfen Gebissen und Höllenaugen, bizarren Fratzen und verzerrten Gliedern, allesamt Haustierchen der kleinen bösen Maggi, die mit skinny Fanny schläft, wenn ihr danach ist. Männliche Wesen tauchen selten auf. Allenfalls ein dämonischer Magier, eine gruselige Mischung aus Zombie und Musketier. Mühlthal vermutet, es könnte sich hierbei um den omnipotenten Doppelgänger von Luca handeln, da auch dieser Magier namens Acul für Fanny schwärmt und deren Liebesbeziehung mit der dominanten und sexsüchtigen Maggi abartig und zugleich erregend findet. Doch Mühlthal mag Lucas zärtlich gezeichnetes Horrorkabinett und er beobachtet den Jungen gern, wenn der zeichnet, schaut zu, wie er die Fineliner über das Blatt flitzen lässt, hierhin, dorthin, als wisse er von Anfang haargenau, welche Linien, Striche und Flächen genau an welche Stelle gehören. Das Kinn in den Handrücken gebohrt, dicht neben seiner linken Zeichenhand, die den Stift senkrecht führt wie ein Kalligraf, schwungvoll und fließend, so rast Luca über das Blatt. Schwindelerregend, denkt Mühlthal oft. Ja, er bewundert den Jungen insgeheim. Doch bevor Luca sich hinsetzt und zu zeichnen anfängt, läuft er ewig um den Tisch herum und erzählt Mühlthal von aktuellen Wendungen in seinem nie zu einem Ende kommenden Maggi-Epos oder über eine Band, die schon längst nicht mehr existiert, oder von einem Computerspiel, das an Dantes Inferno erinnert und so komplex ist, dass Mühlthal erneut schwindelig wird. In den ersten Monaten hat es ihn verrückt gemacht und nicht selten irritiert, dieses unermüdliche um ihn Herumkreisen des jungen Manns, der dabei ununterbrochen vor sich hinredet, im Schlepp sein strenger Geruch, der Mühlthal bei jeder neuen Runde des von Ideen Überfluteten und von seinen Gedanken Gepeitschten sekundenlang umnebelt. Inzwischen geht das vage an ihn gerichtete Selbstgespräch immer öfter in eine Unterhaltung über, wenn es Mühlthal gelingt, den Wasserfall der großen Rede mit freundlichen Fragen zu unterbrechen oder die Story scheinbar begriffsstutzig an eine bestimmte Stelle zurückspulen zu lassen. Außerdem versucht er sich möglichst gleich zu Anfang ausführlich nach Luca zu erkundigen, ihn nach Zukunftsplänen zu befragen, von denen er weiß, dass Luca sie nicht hat, oder nach seiner Vergangenheit zu fragen, die offenbar immer schon von Zeichnen, von Musik aus den 60ern und anderen Sonderinteressen oder Gewohnheiten geprägt war, wenn er Lucas schillernden Erinnerungen Glauben schenken soll. Alles in allem eine liebenswürdige Außenseitergeschichte, resümiert Mühlthal, an der dieser Junge nie gelitten zu haben scheint. Sein einziges Leiden dürfte das Liebesleid wegen Eli sein, vermutet er, und möchte deshalb auf keinen Fall in Lucas Haut stecken. Wie geht es eigentlich Acul, fragt er ihn, du hast lange nichts mehr von ihm erzählt. Luca dreht zwei Runden ohne ein einziges Wort. Er spielt mit einer seiner Haarsträhnen, die er um seinen Finger zwirbelt. Plötzlich setzt er sich, kramt ein Mäppchen und einen Block aus seinem Rucksack und legt zu zeichnen los. Er kaut auf den Lippen, schiebt lästige Haare hinters Ohr, dreht das Blatt immer wieder und setzt von allen Richtungen neu an. Vor Mühlthals Augen taucht zunächst ein Hut auf, an einer anderen Stelle ein Paar spitzer Stiefel, und dazwischen wächst jetzt die Gestalt des Zauberers, der in einer Art Kerker auf einer Bettkante sitzt. Doch auf einmal schaut da ein Gesichtchen unter der Decke hervor, das zweifelsfrei zu Fanny gehört. Er ist gespannt, was Luca ihm gleich darüber erzählen wird. Doch der ist noch lang nicht fertig. Mühlthal guckt heimlich auf seine Uhr und wird nervös. Wir haben noch sechs Minuten, sagt er, eher zu sich selbst, denn entweder juckt das Luca nicht oder er hört gar nicht hin. Du musst zum Schluss kommen, leider, wiederholt Mühlthal etwas deutlicher als vorher. Vielleicht hätte er seine Frage nach Acul ganz zu Anfang stellen müssen. Oder sie sich gleich ganz verkneifen. Denn der junge Mann findet auch heute einfach kein Ende. Es bringt gar nichts, aufzustehen und das Fenster zu öffnen oder das Licht herunterzudimmen oder einfach schon die Tür aufzumachen, das weiß Mühlthal, der die gnadenlose, ja rücksichtslose Konzentriertheit des Jungen durchaus auch ein bisschen bewundert. Er tritt jetzt hinter ihn, legt ihm die Hand sanft auf die Schulter und flüstert, mach Schluss, bitte, wir sind schon weit über der Zeit. Luca scheint aus einem Tiefschlaf aufzutauchen. Er gähnt und streckt sich wie ein junger Hund. Wirft beim Aufstehen versehentlich den Stuhl um und beginnt in einer Art Zeitlupe seine Sachen einzupacken. Kommt denn überhaupt noch wer, fragt Luca, ich meine, nach mir. Mühlthal versucht seinen Ärger herunterzuschlucken, sagt aber dann doch etwas zu laut, nein, Luca, aber ich muss heute pünktlich los. Das klingt hohl, stellt er fest, und ist noch dazu gelogen. Okay, ich geh ja schon, mault der Junge. Mühlthal lehnt am Türstock und wartet. Er pfeift sogar ein bisschen. Als Luca endlich mit schiefgeknöpfter Jacke vor ihm steht wie ein kleiner Kerl, nimmt er seine Hand und schlenkert sie eine Weile lang linkisch hin und her. Weil dies eben die vertraute Form ihrer Verabschiedung ist und sich außerdem nach ordentlicher Versöhnung anfühlt, findet Mühlthal. Das nächste Mal musst du mir unbedingt verraten, was da zwischen Acul und Fanny am Laufen ist, sagt er. Luca grinst nur, dreht sich um und geht. Er winkt Mühlthal noch so lange zu, bis der die Tür hinter ihm zumacht. Mühlthal seufzt und schüttelt leise den Kopf. Er geht zum Fenster, das er weit öffnet, und schaut dem Jungen nach, der sich nicht noch einmal zu ihm umdreht. Die Straßenlaternen springen an. Ich bin todmüde, stellt er fest.

 

 

17:30 Mühlthal

Kurz vor halb Sechs und nach zwei Zigaretten beginnt Mühlthal mit dem Schreibkram. Er zieht die sieben Akten aus dem Schub, die er braucht, legt sie auf den Tisch und geht in den Pausenraum, um sich Tee zu machen und noch eine Zigarette zu rauchen. Er hat überhaupt keine Lust auf seine Notizen. Er ist eigentlich auch zu müde dafür. Aber sein Vorgesetzter, dieser Fengler, kontrolliert regelmäßig seine Dokumentation. Er kontrolliert eigentlich alles und ist den ganzen Tag mit Prüfen, Hinweisen, Reklamieren, Beanstanden und Mahnen beschäftigt. Fengler hat sich sogar gewagt, hat es irgendwie geschafft sich den Schlüssel für Mühlthals Aktenschrank nachmachen zu lassen. Und Mühlthal hat sich nicht über ihn beschwert, was er fraglos hätte tun können, aber Fengler sitzt schlicht und ergreifend am längeren Hebel. Wer ihm widerspricht, gerät in die Hölle, sagt man sich unter vorgehaltener Hand im Kollegium. Direkt Angst vor diesem Fengler hat Mühlthal zwar nicht. Aber vor der Hölle durchaus. Und weil das Quartal Mitte der Woche zu Ende geht, muss Mühlthal nicht bloß die Berichte für heute schreiben, sondern seine kompletten Aufzeichnungen überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Sonst könnte Fengler wieder einmal ohne Ankündigung in sein Atelier stürzen und ihn anbrüllen, ihn fertigmachen, ihm den Kopf abreißen, egal, ob gerade eins der Kinder bei ihm ist oder nicht. Das hat er bereits vier Mal gemacht. Dreist und unverschämt mit der Heimaufsicht gedroht, mit Ermahnung, mit Abmahnung, sogar schon mit Rausschmiss. Hätte Cara Mühlthal nicht jedes Mal beruhigt, ihn beschwichtigt und getröstet, wäre er sofort auf und davon. Weil er sich so etwas eigentlich nicht widerstandslos gefallen lassen möchte. Nein, er hat eigentlich keine Angst vor Fengler. Er hasst ihn. Und hofft noch immer, dass sich dieser Hass eines schönen Tages in kalte, nackte Verachtung für seinen Chef verwandeln wird, weil er denkt, dass das dann weniger anstrengend ist, also jemanden wie den Fengler kalt zu verachten, als ihn mit dieser rasenden Wut zu hassen, wie Mühlthal Fengler hasst. Das Riesenarschloch, denkt Mühlthal, dieser Würfelscheißer und schlägt die Akte von Joe auf. Er schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit und auf sein Spiegelbild, das todmüde und wütend zurückschaut. Mühlthal flucht leise, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und geht mit dem Handy vor die Tür. Er sagt Cara Bescheid, dass es heute noch später als spät wird und er Fengler am liebsten umbringen würde. Cara lacht ihn aus, was ihn ein bisschen aufheitert.

 

17:50 Mühlthal berichtet über Joe

Grundsätzlich kennt Mühlthal Joes Geschichte ganz gut, familiäre Verhältnisse, Aufnahmeanlass und so weiter. Er hat eigentlich die wichtigsten Daten und Details zu allen Kindern parat. Bevor er aber den Verlauf der letzten drei Monate beschreiben wird, will er den Erstbericht zumindest noch einmal überfliegen, den er sich am Anfang seiner Arbeit mit dem Jungen aus der Hauptakte kopiert hat. Denn er muss in seinem aktuellen Bericht einen möglichst plausiblen Zusammenhang zwischen Joes bestehender Problemlage, deren erwünschter und erforderlicher Verbesserung und der entsprechenden Zielstellung herstellen. Mühlthal wird also nicht nur die Veränderungen beschreiben müssen, die er bei Joe in der jüngsten Zeit beobachten konnte, sondern auch sein eigenes Planen und Handeln begründen müssen. Denn genau darauf richtet Fengler sein Augenmerk oder vielmehr das Amt. Dass deutlich wird, es geht was voran in der Entwicklung der Kinder, die zu Mühlthal geschickt werden. Daran ist zwar nichts auszusetzen, das ist ihm bewusst, aber die Art und Weise wie Fengler das tut, nämlich ohne die geringste fachliche Ahnung und das leiseste Interesse an den eigentlichen Prozessen, die in seinem Atelier passieren, regt ihn einfach maßlos auf. Er liest noch einmal, was Joes Mutter bei der Aufnahme ihres Sohns ins Heim berichtet hat, also vor anderthalb Jahren. Damals war der Junge sechs Jahre alt gewesen. Mühlthal hat mit Joes Mutter, Helga W., die jetzt um die Dreißig sein dürfte, in der Zwischenzeit schon einige Male gesprochen. Eine zierliche, verhuscht, ja ängstlich wirkende Frau, die immer übernächtigt aussieht, sehr leise spricht und die Mühlthal ziemlich ungepflegt vorkommt. Er konnte ihre Hilflosigkeit jedes Mal regelrecht riechen, ihr Sorge um Joe und zugleich ihre traurige, lähmende Wut auf das eigene Kind, das sich nicht mehr bändigen ließ, ihr entglitten war. Helga W. hat mit ihrem zweiten Mann, Thomas W., zwei weitere Kinder, Joes Halbgeschwister Marlon, inzwischen fünf, und Lilli, zwei Jahre alt. Joes biologischer Vater Thorsten C., Ende Dreißig, hatte Frau und Kind verlassen, als sein Sohn ein halbes Jahr alt war. Bis heute besteht zu ihm kein Kontakt. Vor sechs Jahren hat Joes Mutter Thomas W. geheiratet. Anfangs sei die Beziehung zwischen ihrem Partner und Joe eigentlich recht gut gewesen, hatte Helga W. damals berichtet. Kurz nach der Heirat habe er ihren Jungen sogar ganz selbstverständlich adoptiert. Erst mit der Geburt ihres zweiten Kindes Marlon habe ihr Ehemann sich zunehmend gereizt und von den beiden Kleinkindern rasch überfordert gezeigt, ohne jedoch bereits körperlich gewalttätig zu werden. Mit dem Verlust seiner Arbeitsstelle und dem Tod seines Vaters in derselben Zeit habe Herr W. dann regelmäßig Cannabis und Alkohol zu konsumieren begonnen, unter deren Einfluss er aggressiv und unkontrollierbar impulsiv geworden sei. Vor zwei Jahren habe ihr Mann sie zum ersten Mal krankenhausreif geprügelt. Zuvor habe es höchstens vereinzelte Ohrfeigen gegeben. Einmalig auch einen massiven sexuellen Übergriff auf sie, den sie jedoch während der Befragung ausdrücklich nicht als Vergewaltigungsversuch angeben wollte. Etwa in der Zeit von Joes Schuleintritt habe ihr Mann dann auch den Jungen regelmäßig verprügelt und beschimpft, und zwar nicht allein unter dem Einfluss von Drogen, sondern vielmehr im Zusammenhang der Schwierigkeiten, die Joe von Anfang an in der Schule gezeigt habe. Als ein Beispiel führte Helga W. an, dass ihr Mann den Jungen als „dummes Dreckschwein“, „Hurensohn“ beschimpft und ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen habe, als ihr Sohn eines Tages ohne Ranzen und mit zerrissener Jacke aus der Schule gekommen sei. Derlei Vorfälle hätten sich seither gehäuft, so dass Joe aus Angst vor seinem Stiefvater immer öfter von zu Hause ferngeblieben sei. Bis Helga W. schließlich die Polizei verständigt habe, als ihr Sohn auch nach zehn Stunden nicht wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Der Junge wurde schließlich in einer Unterführung in der Nähe des Bahnhofs aufgegriffen, wo er offenbar gebettelt hatte. Das Amt setzte daraufhin sofort die Aufnahme in einen betreuten und geschützten Wohnbereich durch. Ferner hatte die Heimleitung eine Anzeige gegen Joes Stiefvater wegen mutmaßlicher körperlicher und psychischer Gewalt gestellt. Das Verfahren steht kurz vor dem Abschluss, Herr W. befindet sich seit damals in Untersuchungshaft. Noch wurde nicht abschließend darüber entschieden, ob die beiden jüngsten Kinder bei ihrer Mutter verbleiben werden. Helga W. sollte damals auch die kindliche Entwicklung von Joe schildern. Mühlthal kennt diese Art der Befragung, die ans Eingemachte gehen kann, wie er weiß. So muss es auch für Helga W. peinlich bis quälend gewesen sein, sich an einige wesentliche Details aus Joes ersten Lebensjahren überhaupt nicht mehr erinnern zu können oder bestimmte Besonderheiten erst gar nicht registriert zu haben. Ihre Antworten lesen sich deshalb stellenweise wie vage oder nichtssagende Aussagen, findet Mühlthal, die eher geraten oder sogar erfunden wirken. Helga W. wusste zum Beispiel kaum noch, ob ihre Schwangerschaft gewollt und Joe entsprechend ein Wunschkind gewesen war. Sie konnte nicht mehr sagen, wie die Geburt verlaufen war, ob sie den Säugling gestillt hatte und wenn ja, wie lange. Ab wann ihr Sohn zum ersten Mal durchschlafen konnte, ob er überhaupt ein ruhiges oder ein unruhiges Kind gewesen ist. Ganz zu schweigen von der motorischen und kognitiven Kindesentwicklung, über die sie keine aussagekräftigen Details mehr wusste. Was sie noch ziemlich genau sagen konnte, war der Zeitpunkt der Reinlichkeit, als Joe vier war, und dass er bis zu seinem dritten Lebensjahr wenig gesprochen habe. Nach Joes ersten aggressiven Verhaltensweisen befragt, gab Helga W. zu, dass diese bereits im Kindergarten beobachtet worden seien. Sie deutete an, dass Joe vor allem auch Marlon gegenüber oft „schrecklich grob“ gewesen sei, womöglich aus Eifersucht, so dass sie ihn aus dem gemeinsamen Kinderzimmer „beseitigen“ habe müssen, weil sie ernsthaft befürchtet habe, Joe könne seinen Halbgeschwistern eines Tages womöglich „etwas total Schlimmes“ antun. Nachdem Mühlthal diesen Abschnitt des Berichts gelesen hat, überfällt ihn eine noch größere Müdigkeit. Er steht auf und geht zum Rauchen nach draußen, wo es leicht zu nieseln begonnen hat. Er fragt sich, was also mache ich mit Joe. Was macht Joe bei mir. Er kann nicht sagen, dass der Junge insgesamt ruhiger oder angepasster oder weniger aggressiv geworden ist. Auch wenn es in der letzten Zeit keine Attacken mehr auf ihn gab, wie noch ganz zu Anfang. Doch neben der unbändigen Wut vermeint Mühlthal bei dem Jungen immer deutlicher auch eine tiefe Traurigkeit und Verlassenheit zu spüren, gegen die er verzweifelt anzukämpfen versucht. Sich abstrampelt, um sich tritt, ins Leere tobt. Mühlthals Kollegen erleben es offenbar ähnlich, wie er weiß. Aushalten, denkt er oft, seine ungerichtete Wut aushalten und sie unbeschadet überstehen. Also unzerstörbar da sein, um das Kind vor sich beschützen zu können. In seiner Nähe bleiben und nicht müde werden im Versuch, eine Verbindung zu ihm herzustellen, egal wie. Mit Spielen, Erzählen, Zeichnen, dem Bau einer Höhle wie kürzlich oder mit der tröstenden, haltenden Umarmung, die er wahrscheinlich von keiner der vermeintlichen Vaterfiguren je erfahren hat. Mühlthal geht wieder hinein und beginnt in das für ihn vorgesehene Berichtsfeld zu tippen: Die autoaggressiven Impulse des Jungen sind seit etwa sechs Wochen ausgeprägter, auch im Vergleich zu seinem zuvor überwiegend fremdaggressiven Verhalten, das sich außerdem stärker auf Objekte zu richten scheint als auf reale Personen. Meiner Einschätzung nach gelingt es Joe inzwischen besser, einige dominante Selbstanteile des Aggressors (Stiefvater) auf Spielfiguren und -szenarien zu projizieren, in der Folge von sich distanzieren und insgesamt besser regulieren zu können. So wiederholte er im Spiel wie auch in seinen Zeichnungen nicht nur immer wieder den ausnahmslos vergeblichen Kampf des Kleinen (Dino-Figur) gegen den als vernichtend erlebten, omnipotenten Großen (dito), sondern er konnte jüngst erstmals den erfolgreichen Sieg des Kleinen zulassen, der den Großen mit ebenbürtiger Macht und Gewalt zerstört hat. Darüber hinaus konnte ich in der Beziehung zu dem Kind einen vorsichtigen Vertrauenszuwachs beobachten, der es ihm zum Beispiel ermöglichte, den zu schützenden Selbstanteil (kleiner Dino) mitzunehmen (Integrationsimpuls) und mein bedingungsloses Willkommensversprechen anzunehmen. Zu empfehlen wäre daher die Steigerung der Frequenz von zwei auf drei Termine in der Woche, um das Erleben verlässlicher Bindung mit einem männlichen (väterlichen) Gegenüber weiter zu festigen. Meine Prognose ist vorsichtig optimistisch, dass Joe etwa innerhalb des nächsten Jahres in erster Linie emotional nachreifen könnte und die mit der Stabilisierung und Verbesserung seiner Affektregulation einhergehenden positiven sozialen Erfahrungen sein Selbstwert- und Selbstwirksamkeitserleben erheblich stärken dürften. Zudem bin ich zu der Ansicht gelangt, abweichend von meiner vorherigen Einschätzung, dass nicht eigentlich das soziale und dysfunktionale Fehlverhalten des Kindes im Vordergrund unserer Bemühungen stehen sollte, sondern an sich die schwere Traumatisierung durch massive und anhaltende Gewalterfahrung sowie die unzureichende mütterliche Bindungserfahrung. Entsprechend werde ich den Fokus künftig auf stärkende, Halt gebende und das Sicherheitserleben des Jungen fördernde Rahmenbedingungen setzen, um potenziellen Re-traumatisierungen möglichst entgegenzuwirken. Mühlthal hört auf zu schreiben. Er liest, was er geschrieben hat und findet es zu kopflastig, zu distanziert und überhaupt zu kompliziert. Er überlegt, ob er Fengler eins auswischen will, der davon nur die Hälfte verstehen dürfte. Oder ob er sich selbst damit ins Abseits geschossen hat, weil er das Leiden des Kleinen aus der Nähe eigentlich kaum noch ertragen kann. Mühlthal fragt sich, wieviel Anmaßung in seinen Hypothesen stecken könnte, die vor allem eines im Nebel verschwinden lassen würden, und das war sein wachsendes Gefühl der Hilflosigkeit. Er schaut auf die Uhr. Kurz nach sieben. Es hat keinen Sinn weiterzumachen, beschließt er. Er fährt den Rechner runter, räumt die Akten zurück und löscht das Licht. Bevor er aufs Fahrrad steigt, zündet er sich eine Zigarette an und schreibt Cara eine Nachricht. Liebste, ich steige jetzt aufs Rad und komme endlich heim. Schnauze voll.


 

7:30 Mühlthal berichtet über Eli

Mühlthal hat unruhig geschlafen, weil er wieder einmal von Fengler geträumt hat. Es ist immer dasselbe Motiv, denkt er. Der Typ taucht mit hochrotem Kopf in seinem Atelier auf und droht ihm mit sofortigem Rauswurf. Dieser Traum ist so real, dass seine Frau Cara ihn beruhigen muss, mitten in der Nacht das verschwitzte Bettzeug mit ihm wechselt und ihn streichelt, bis er wieder normal atmen kann. Immer wieder hat Mühlthal nach solchen Albträumen darüber nachgedacht den Job hinzuschmeißen. Aber er mag die Kinder, die zu ihm kommen, und will sie auf keinen Fall im Stich lassen. Außerdem wäre das ein Triumpf für Fengler, denkt er, das wäre meine Bankrotterklärung. Kurz vor halb acht radelt Mühlthal auf den Hof des Heims. Er sagt den Kollegen Bescheid, dass er Berichte schreiben und die Stunden am Vormittag daher leider verschieben muss. Es fällt ihm schwer, dieses Absagen, aber er hat keine andere Wahl. Er sitzt am Tisch und schaut hinaus. Es ist still, findet er, ganz besonders still, kurz bevor die Schulglocke läutet. Er steht wieder auf, tritt vor die Tür und raucht, während er überlegt, über wen er als nächstes schreiben will. Nicht gleich den schwierigsten Fall, beschließt er, dazu bin ich noch zu müde. Geradezu gerädert. Er will nicht wieder an Fengler denken und kehrt zurück, kocht sich einen starken Kaffee und zieht Elis Akte aus dem Stapel. Eli, die er schon so lange kennt. Er überfliegt seine Notizen der letzten Wochen und sucht nach einem Anfang für seinen Bericht. Wie oft schon hat er danach gesucht. Und es wird immer schwieriger, findet er, weil die Nuancen in Elis Entwicklung derart fein, fast unsichtbar geworden sind, dass eigentlich alles nur noch wie eine Wiederholung klingt. Wie Stillstand, den es nicht geben kann. Das ist der einzige Trost für Mühlthal, zu wissen, dass es in keiner Entwicklung Stillstand geben kann, überhaupt im Leben, denkt er. Die Schwierigkeit ist nur, diese nahezu unsichtbaren Veränderungen jemandem wie Fengler oder der Heimaufsicht oder dem Amt überzeugend zu vermitteln. Wenn er an Eli denkt, fällt ihm zuerst die Mutter ein, die wie eine etwas ältere Version Elis, ja wie eine große Schwester wirkt. Ihm ist immer schon schleierhaft gewesen, wie diese Frau fünf Kinder auf die Welt hatte bringen können. Völlig unterschiedliche Kinder. Elis fünf Jahre ältere Schwester Gudrun ist geistig und körperlich behindert und lebt in einer Einrichtung, die weit genug entfernt ist, um eine nennenswerte Rolle in Elis Leben zu spielen. Mühlthal erinnert sich nicht mehr, wie es zu dieser Behinderung von Gudrun gekommen war. Er weiß nur, dass Elis Mutter ihre jüngste Tochter ebenfalls für behindert erklären hatte lassen. Offiziell und amtlich bescheinigt, kurz bevor Eli fünfzehn geworden war. Es gibt noch den Bruder Albrecht, der sieben Jahre älter ist, die Halbschwester Corinna, die inzwischen Anfang Dreißig sein dürfte, überlegt er, und Elis Stief- und Lieblingsbruder Constantin, der elf Jahre älter als sie ist. Vielleicht ist er ihr Lieblingsbruder, weil er völlig andere leibliche Eltern hat, vermutet Mühlthal. Und weil er Weltmusik macht und durch die Gegend reist, was Eli sich nicht traut und doch am liebsten tun würde. Der Stanz, wie sie ihn liebevoll nennt, der Stanz ist grad in Indien. Oder in Bolivien. Im Senegal. Auch Mühlthal beneidet den Stanz insgeheim für seine große Freiheit. Die Halbschwester Corinna, für die sie keinen Kosename hat, scheint eine entsetzlich komplizierte Frau zu sein, die überall verbrannte Erde hinterlässt und mit ihrem Leben vielleicht noch schlechter zurechtkommt als Eli, wenn er an ihre Erzählungen denkt. Und zu Albrecht, der als Spießer mit Frau und drei Kindern irgendwo im Ausland lebt, zu dem hat Eli keinen Kontakt. Ja, es kommt Mühlthal fast so vor, als gäbe es ihn gar nicht, hätte sie ihn nicht einmal erwähnt, als Spießer Albrecht-Johannes, der mit seiner spießigen Frau und zwei Kindern im Ausland lebt. Auch Elis Vater wurde weitgehend verschwiegen. Mühlthal weiß nur, dass er die Familie verlassen hat, als seine jüngste Tochter ein halbes Jahr alt war, dass er in der Einrichtung, in der Elis Schwester Gudrun lebt, als Hausmeister und Mädchen für alles arbeitet. Aber seinen Namen, sein Alter kennt er nicht, weil Eli nichts von ihrem Erzeuger wissen will, wie sie ihm ganz am Anfang gesagt hat. Sie hatte mit den Schultern gezuckt und geflüstert, mein Erzeuger ist mir egal. Mühlthal weiß, dass das nicht ganz stimmen kann, aber er konnte sie gut verstehen. Schließlich hat er selbst den eigenen Vater erst mit vierzig kennengelernt. Auf dem Sterbebett, kurz vor Hosenknopf, wie Cara dazu gesagt hatte. Es braucht Zeit, denkt Mühlthal, und manchmal passiert es gar nicht, dass man einen Mann sucht und findet, der einen zwar irgendwann einmal gezeugt hat, danach aber nichts mehr von einem wissen wollte. Solch einen Schmerz, das Gefühl, nichts wert zu sein, wenn schon nicht einmal für den eigenen Vater, das kann kein anderer einem nehmen, weiß Mühlthal. Es verschwindet auch nicht, wenn man als Erwachsener durchaus in der Lage ist, das totale Desinteresse des Vaters ausnahmslos nicht nur auf sich zu beziehen, sondern zum Beispiel auf eine Art Feigheit und Unreife dieses Vaters. Auch Elis Vater hat seine Gründe gehabt, weiß Mühlthal, wobei einer dieser Gründe die Mutter sein könnte, überlegt er, weil sie einem die Luft zum Atmen nimmt und so tut, als wäre ihre Tochter ein dritter Arm oder im besten Fall ein zweiter Kopf von ihr. Er wird seinen Groll gegen sie nicht los, stellt er fest. Weil sie Eli nicht loslassen und in ihr eigenes Leben entlassen kann. Das ist das Stichwort. Elis Ablösung von ihrer Mutter. Mühlthal fährt den Computer hoch, lauscht dem Surren der Festplatte, fixiert den Cursor, als die Berichtmatrix aufgeht, und beginnt zu schreiben. Karlotta-Elise, tippt er widerwillig den vollen Vornamen, den selbst Eli schrecklich findet, setzt ihre Arbeit an der Leinwand im Stehen fort, was auf eine Aufrichtung auch im Sinne der Selbstbehauptung schließen lassen sowie auf einen progressiven Widerstand gegenüber der bisherigen, passiv aggressiven Position im Rahmen der Essensverweigerung hindeuten könnte. Neben ihrer Fähigkeit zu einer mitunter humorvollen Deutung von Gestaltungsobjekten während der Werkbetrachtungen weisen neue Bildmotive und Themen auf eine Differenzierung und zunehmende Symbolisierungsfähigkeit hinsichtlich komplex traumatischer Inhalte hin. Karlotta-Elises wiederholt kommunizierter Wunsch, zu ihrem Bruder Constantin zu ziehen und selbständig zu leben, korrespondiert durchaus mit meiner Einschätzung, dass ihr Streben nach Erhaltung ihrer Integrität und die Durchsetzung ihrer Autonomie ursächlich für das pathologische Hungern stehen könnten, wohlgemerkt vor dem Hintergrund einer bereits mehrfach von mir beschriebenen, invasiv aufrechterhaltenen Abhängigkeitsdynamik von Seiten der Mutter. In diesem Zusammenhang unterstütze und verstärke ich den Wunsch von Karlotta-Elise entschiedener als bisher und habe sie in der letzten Stunde vor dem Hintergrund ihrer außergewöhnlichen künstlerischen Begabung explizit dazu angeregt, über eine Bewerbung für ein Kunststudium nachzudenken. Diese meinerseits wohldurchdachte und bewusst ergriffene Initiative könnte bei Karlotta-Elise zwar kurzfristig zu einer Verstärkung ihrer destruktiven Selbstzweifel führen, dürfte jedoch im weiten Verlauf und unter engmaschiger Begleitung ihre eindeutig vorhandenen, positiven Autonomieimpulse stärken, wie sie für eine altersgemäße Entwicklung als erwachsene junge Frau unabdingbar notwendig sind. Das möglicherweise evozierte Risiko einer erneuten Regression im Sinne einer vorübergehenden Verschlechterung ihres psychischen und physischen Gesamtzustands und somit ein wiederholtes Aufweichen der Abgrenzung und Behauptung gegenüber der Mutter schätze ich zu diesem Zeitpunkt als wesentlich geringer ein als das weiter andauernde maligne Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und Tochter. Mühlthal hat Kopfweh bekommen. Er geht mit der Tasse kalten Kaffees nach draußen und raucht. Offensichtlich hat er die Schulglocke überhört, das Kreischen, Rufen und Lärmen der Schüler und die abrupte Stille gleich danach. Er hat nichts mitbekommen, nicht einmal seine Übelkeit, die ihn plötzlich überkommt, weil er noch nichts im Magen hat. Nein, er kann das mit dem Risiko im Bericht auf keinen Fall so stehenlassen. Man wird mir den Kopf abreißen, denkt er. Ein abzuwägendes Risiko muss in einem offiziellen Bericht unbedingt geheim gehalten oder zumindest verschwiegen werden. Mühlthal nimmt sich allerdings vor möglichst bald mit seinem Freund und Kollegen Max darüber zu sprechen, dem er grundsätzlich vertrauen kann, und der das Ausmaß des Risikos in Elis Fall angemessen einschätzen wird. Doch Mühlthal spürt auch, wie mulmig ihm geworden ist bei der Angelegenheit, eigentlich schon seit gestern und erst recht während des Schreibens. Außerdem bestätigt er damit ungewollt das ewige Vorurteil, es gehe bei ihm darum, zeichnen zu lernen. Mumpitz, denkt er. Er zweifelt jetzt regelrecht an seinem gestrigen Vorstoß, Eli zu solch einem weitreichenden Zukunftsplan ermuntert zu haben, der allein für sich genommen heikel ist. Drinnen löscht er sofort die letzte Passage, überfliegt den Kurzbericht noch einmal und ruft Max an. Max hat wie immer keine Zeit. Aber er sagt zu Mühlthal, ich rufe dich heute Abend zurück. Um viertel nach acht schließt er das Dokument und geht in die Cafeteria im Haupthaus, um ein Croissant zu essen. Es kommt selten vor, dass er ein Croissant dem Müsli vorzieht, das er sonst am Morgen isst. Vielleicht ein Zeichen von Stress, denkt er. Er überlegt, ob er Eli nicht schon für den übernächsten Tag einbestellen soll, weil ihm die Woche bis zu ihrem nächsten Termin zu lang vorkommt. Angesichts des Risikos, denkt er. Auf dem Weg zurück zum Atelier kommt Fengler ihm plötzlich entgegen, der ihn aber glücklicherweise nicht wahrnimmt, weil er mit einer jungen, höflichen Kollegin in ein Gespräch vertieft ist. Vielmehr hält er offenbar einen seiner Monologe. Zudem hat der kleine dicke Mann mit dem hochroten Kopf wie immer einen Haufen schwerer Aktenordner unterm Arm, die ihm ohne die beflissene und hilfsbereite Frau an seiner Seite sicher längst entglitten wären. Mühlthals Schädel droht zu platzen. Er beginnt loszutraben, um schneller an die Schmerztabletten zu kommen und danach in seinem Versteck neben den Mülltonnen noch eine Zigarette zu rauchen, unsichtbar für einen Fengler.

 

8:30 Mühlthal berichtet über Lena

Obenauf liegt Lenas Akte. Sebastian Mühlthal ist in Eile. Außerdem hat er keine Lust den ganzen Vormittag mit diesem Berichteschreiben zu verbringen. Er entscheidet sich fürs Zeichnen zwischendurch, was seinen Kopf freimacht und ihn doch in die unmittelbare Nähe der Kinder bringt. Und was seine Gedanken mit den Empfindungen und dem Nachsinnen vermischt wie einen Sauerteig, der noch eine Weile lang reifen muss. Meist zeichnet er sogar etwas in der kurzen Zeit zwischen den Terminen, noch unter dem frischen Eindruck der vorherigen Stunde. Eine rasche Bleistiftskizze, die oft überraschend viel mit dem Geschehen kurz zuvor zu tun hat, wie er in all den Jahren immer wieder überrascht festgestellt hat. Wie ein tiefes Echo in ihm, das sich einstellt, sobald das Kind fort ist und bevor das nächste vor der Tür steht. Mühlthal zieht seine Kladde aus dem Regal, ein Skizzenbuch im Mittelformat. Kürzlich hat er nachgezählt wie viele Bücher er bereits mit seinen Echo-Bildern gefüllt hat. Vierundzwanzig Stück in acht Jahren und zweiundsechzig Kinder, die seither zu ihm gekommen waren. Er nimmt sich jetzt zusammen, nicht in den letzten drei Exemplaren zu blättern und nach seinen Resonanzzeichnungen suchen, die er nach den Stunden mit Lena gezeichnet hat. Er schaut sich nur die des letzten Vierteljahres an, um auf Ideen zu kommen. Doch eigentlich war die letzte Sitzung für sich betrachtet schon ein kleiner Höhepunkt, der es ihm leichtmachen würde loszuschreiben. Mühlthal hat das Buch aufgeklappt und steht vor der leeren Seite. Er denkt, das leere Blatt ist entweder eine Qual oder eine Lust, doch beide Male geht es um den Einstieg in ein Bild, das noch nicht aufgetaucht ist. Er spitzt den Bleistift, hat für einen Moment den Impuls eine Giraffe zu zeichnen, kann dann jedoch nicht verhindern, dass seine Hand offensichtlich etwas völlig anderes entschieden hat. Sie kritzelt in der Mitte der Seite eine Art Wirbel oder Knäuel, das sich bald als Brummkreisel entpuppt, der sich wie verrückt dreht. Und plötzlich taucht von rechts ein zweiter auf, ein größerer, der den kleineren anstupst, ein Kreiseltanz, eine Tarantella. Mühlthal staunt. Er legt das aufgeschlagene Skizzenbuch neben den Computer, macht ihn an und holt sich einen Kaffee, bevor er sich hinsetzt. Er freut sich jetzt auf das, was er über Lena schreiben will. Hält eine Weile inne, um ihre gemeinsame Geschichte revuepassieren zu lassen, sich an den Beginn zu erinnern, als das Mädchen mit neun Jahren in einer der Wohngruppen aufgenommen worden war. Sie sprach damals kein Wort, weinte viel, zeigte ein abgrundtiefes Heimweh, das Mühlthal ungemein berührt hatte. Auch weil es ihn an sein eigenes Gefühl von Verlorenheit und Angst erinnerte, das sich bis heute noch manchmal in ihm ausbreitet, wenn er längere Zeit von Cara getrennt ist. Cara ist demnach mein Zuhause, denkt er. Und Lena hat ihres verloren, als ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, bei der sie aufgewachsen ist, ganz unerwartet gestorben war. Überhaupt sind alle Angehörigen von Lena von hier nach da verschwunden. Die Eltern sind bei einem Verkehrsunfall verunglückt, als Lena gerade acht geworden war. Mühlthal wusste nicht viel mehr über sie, außer dass auch Lenas Brüderchen vier Jahre zuvor plötzlich verstorben war. Er hieß Linus, hat sie ihm eines Tages erzählt, und ich träume ständig von ihm. Er ruft nach mir und weint, aber ich kann ihn nirgends finden. Oder er läuft an meiner Hand durch unsren alten Garten, die Sonne scheint. Doch auf einmal kommt ein Sturm. Ich kann Linus nicht festhalten, er lässt mich los. Ich sehe zu, wie er in die Luft gerissen wird und immer weiter und höher davonfliegt, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Dann werde ich wach von meinem Schreien. Mühlthal hat ihr damals die Hand auf die Schulter gelegt und sie hat es zugelassen. Danach hat Lena nie mehr über Linus gesprochen. Im ersten Jahr kam sie drei Mal wöchentlich zu ihm. Immer eine halbe Stunde vor dem Unterricht. Alle Kollegen waren sich einig, dass Lena eine klare und gewohnte Struktur und vor allem dieselben Menschen um sich herum benötigte. Sie löste in jedem den starken Wunsch aus, sie unbedingt beschützen zu müssen oder sie zu retten. Vor ihrer unvorstellbar traurigen Vergangenheit oder vor was auch immer. Selbst die nette kinderlose Sekretärin wollte das Kind adoptieren, war aber leider zu alt dafür. Außerdem ist es nicht erlaubt, dass Angestellte eines der Heimkinder bei sich aufnehmen. Es ist auch nicht besonders professionell, überhaupt an so etwas zu denken, weiß Mühlthal, der bei einigen Kindern trotzdem daran denken muss. In den ersten drei Monaten hat Lena kein Wort gesagt und auch nichts gestaltet. Manchmal konnte Mühlthal sie dazu bewegen mit ihm in der Sandkiste zu spielen. Immer mit denselben Figuren, mit Tieren, die auf einem Bauernhof leben. Er hat meist den Hund oder den Ochsen für sich ausgesucht, während sie sich meist die kleine rote Katze nahm, die nichts anderes tat, als vor dem Hund davonzurennen, die auf einen Baum kletterte, sich im Sand versteckte, einige Male sogar ganz aus der Kiste sprang und unter Lenas Jacke verschwand. Egal wie harmlos und freundlich Mühlthal seinen Hund spielte. Nicht einmal auf seine Frage, ob sie, die liebe Katze und er nicht einfach gute Freunde werden könnten, hatte sie reagiert. Es war frustrierend, vor allem aber war es traurig für Mühlthal, die anhaltende Ängstlichkeit des Mädchens jedes Mal aufs Neue miterleben zu müssen, ohne die leiseste Veränderung oder eine Wendung der Handlung herbeiführen zu können. Weder als Hund noch als Mensch. Zwar vertraute er fest darauf, dass Lena nach und nach Vertrauen entwickeln würde, gleich wie lange das noch dauern sollte. Das sagte ihm seine Erfahrung. Aber die Verlassenheit des Kindes zu ertragen, brachte ihn schlichtweg an seine Grenzen. Er sprach mit den Kollegen, redete oft mit Max und erzählte abends sogar Cara davon, was er eigentlich nicht hätte tun sollen, weil die Geschichte der Kleinen seine Frau noch trauriger machte als ihn. Mühlthal weiß inzwischen, wie es damals weiterging. Lena war eines Tages durch den Raum gegangen und hatte sich alles genau angeschaut. Er hatte sie ermutigt, das Material herauszuholen und anzufassen und auszuprobieren, was sie nach weiteren Stunden endlich auch tat. Sie wählte zuallererst ein Kästchen mit kleinen Schmuckperlen aus buntem Glas, die sie anfangs noch mit seiner Unterstützung und bald selbständig aufzufädeln begann. Das Mädchen stellte unermüdlich Kettchen her, für Arm und Hals, die sie ausnahmslos verschenkte, auch wenn er sie sanft dazu drängte, doch eines für sich selbst zu behalten. Ihre ersten Worte überhaupt, das waren tatsächlich die Namen ihrer Erzieher, Lehrer und Mitschüler, denen sie die farbenfrohen Ketten schenken wollte. Rückblickend gesehen, sagt sich Mühlthal, ist es doch ein wundersam schöner Verlauf gewesen. Bis hin zur letzten Stunde. Er richtet sich jetzt auf und schreibt los: Nach einer längeren Phase des zurückgezogenen und nach wie vor ängstlichen Verhaltens von Lena, das sich auch in der Art ihrer Gestaltung auf kleinster Fläche sowie in ihrer zurückhaltenden Kommunikation widerspiegelte, zeigt sich in jüngster Zeit eine generell neue Qualität in der Interaktion. Lena wirkt in ihrem Auftreten offener und vitaler, ihre Körperhaltung ist straffer und ihre bisher einsilbigen und sehr leise vorgebrachten Sätze werden vielschichtiger und komplexer im Sinne des Erzählens. Sie selbst berichtet von einem besonderen aktuellen Erfolgserlebnis (Preis bei einem Schreibwettbewerb), worüber sie sich offensichtlich gefreut hat und wodurch sie sich unverhofft bestätigt fühlt. Neben dieser wertvollen, stärkenden Selbstwirksamkeitserfahrung tauchen auf der Bildebene außerdem Motive auf, die erstmalig nicht nur das bisher traumatische und verschüttete Thema Geschwister und Elternverlust symbolisieren, sondern meiner Einschätzung nach auch auf eine Auseinandersetzung mit freundschaftlicher und zutiefst vertrauensvoller Bindung hinweisen könnten. Darüber hinaus konnte ich während der letzten Sitzung in meinem unmittelbaren Erleben erstmals einen deutlich erotisch eingefärbten Kontaktaufbau seitens der Jugendlichen wahrnehmen, was einer altersgemäßen und als solche reiferen Beziehungsgestaltung entspräche. Unterfüttern ließe sich diese Beobachtung mit der vorsichtigen Deutung der Bildobjekte, wie zum Beispiel die betonten sinnlichen Motive von Augen, Wimpern und Lippen zweier Giraffen, deren Hälse zudem an phallische Formen erinnern. Ferner bezog sich Lena während unserer gemeinsamen Bildbetrachtung auf meine parallel entstandene Zeichnung einer „Zauberblüte mit einem magischen Diamanten, der alles verwandeln“ könne, wie sie es umschrieb, was unzweideutig, wenn sicher auch noch vorbewusst, auf eine Auseinandersetzung mit weiblicher Genitalität und Sexualität hinweisen dürfte. Abzuwarten und zu beobachten gilt, in welcher Weise Lenas von mir beschriebene progressive Entwicklungsmomente bereits als stabile und tragfähige Erfahrungsinhalte für sie wirksam bleiben werden. In jedem Falle aber scheint sich zumindest verhalten eine weitere Reifestufe der Jugendlichen anzukündigen. Mühlthal streckt sich und steht auf. Zwar ist er auf unbestimmte Weise zufrieden mit sich, doch irgendwo hat auch diesmal wieder ein Zweifel in ihm zu nagen begonnen. Nicht in erster Linie diese Sorge um Lenas Verfassung, wie er sie am Vortag unmittelbar nach der Sitzung hatte. Eher sind es seine Deutungshypothesen, die ihm platt vorkommen, und seine Selbstoffenbarung hinsichtlich der erotischen Spannung, auch wenn er diese tatsächlich deutlich verspürt hat. Zwar ist es nicht das erste Mal, dass er in diesem offiziellen Zusammenhang so etwas beschreibt. Mitnichten. Er ist fest davon überzeugt, dass seine authentischen Selbstbeobachtungen genauso wichtig sind, wie alle anderen auf die Stunde bezogenen Beobachtungen. Doch diesmal hat Mühlthal nicht nur die leise Befürchtung, er könnte in seiner Freude über Lenas jüngste Veränderung womöglich viel zu früh etwas ankündigen, was noch zu zart, zu verletzlich und unschuldig war, um es derart ans Licht zu zerren. Nein, es ist wieder dieser Fengler, der in fataler Weise missverstehen könnte, was Mühlthal über seine Wahrnehmung von Erotik und Sexualität in der neuartigen Beziehungsdynamik beschrieben hat. Auf der anderen Seite sträubt sich diesmal etwas in ihm gegen eine entsprechende Korrektur seines Berichts, nur um Fenglers möglicherweise vernichtendem Urteil zu entgehen. Ja, denkt er sich jetzt, ich sollte es gerade deshalb drauf ankommen lassen. Zwar misstraut er im selben Moment seinem nahezu kindisch rebellischen Trotz, verdächtigt sich sogar selbst, damit einen endgültigen Rauswurf heraufzubeschwören, der ihn unterm Strich wahrscheinlich erleichtern und befreien würde, wenn er ehrlich ist. Aber er ist es inzwischen leid, er ist zu müde sich ständig zu verbiegen, sich dem Halbwissen und engstirnigen Diktat seiner Vorgesetzten zu unterwerfen, indem er mit seinen professionellen Überzeugungen hinterm Berg hält und Dinge schluckt, die ihn schon viel zu lange schleichend vergiften. Mühlthal nimmt seine Jacke und geht nach vorne auf die Straße, um ein paar Schritte zu gehen und ein, zwei Zigaretten zu rauchen. Ich lasse es so stehen, beschließt er und kehrt zurück. Die Glocke läutet die kleine Schulpause ein. Er speichert den Bericht und öffnet die nächste Seite für Justus. Ach, Justus, sagt Mühlthal und seufzt.

 

9:25 Mühlthal berichtet über Justus

Justus will, dass ich sehe, wie dünn die Fäden sind, die ihn noch mit der Welt verbinden, denkt Mühlthal. Es gab Zeiten, da nannte er ihn heimlich den Kronprinzen oder den Jungen mit der Maske oder den Auserwählten. Es waren Assoziationen, die er für sich benötigte, um mit seinen eigenen widersprüchlichen Gefühlen klarzukommen, die er Justus gegenüber empfand, seit er ihn kannte. Wie Eli lebte der Junge nicht mehr im Heim, sondern wieder bei seinen Eltern. Obwohl sich in seinem Zuhause nichts geändert oder für den Jungen wesentlich verbessert hatte. Justus‘ Vater, Herr L., hatte einfach beschlossen und sogar bei Gericht durchgesetzt, dass sein Sohn nach einem Jahr Unterbringung zu den Eltern zurückkehrt. Immerhin das einziges Kind. Mühlthal hat nie verstanden, wie der Anwalt damals erfolgreich dafür argumentieren hatte können. Wie es sein konnte, dass nicht einmal klinische Befunde und ein unabhängiges Gutachten, in dem Justus in hohem Maße als labil und selbstgefährdend eingestuft worden war, die Richterin davon überzeugt hatten, dass eine Rückführung ins elterliche Haus weder den erforderlichen emotionalen Halt für den Jugendlichen mit sich bringen noch weitere traumatisierende und schwer belastende Erfahrungen verhindern konnte. Der Vater von Justus, den Mühlthal nur ein einziges Mal gesehen hatte, als er seinem Sohn Sportzeug vorbeigebracht hatte, war ein ausgesprochen kühler und distanzierter Typ, der auch von den Kollegen als fordernd, ja, regelrecht unverschämt beschrieben worden war. Der vor allem auch Justus ständig zurechtgewiesen und entwertet hatte. Vielleicht war es die einzige Chance des Jungen, dass dieser dominante, vernichtend kritische Vater nur selten zu Hause war, weil er als Berater großer Unternehmen ständig irgendwo herumreiste. Die Mutter hingegen, der Mühlthal in der Zeit, als Justus noch im Heim lebte, nur selten begegnet war, wirkte auf ihn eher sanft, zurückhaltend und zugewandt auf ihn. Wie ihr Sohn war sie von einem nicht zu greifenden Schleier umgeben, hinter dem Mühlthal eine tiefe Tragik zu spüren vermeinte. Von Statur war sie zart, nahezu zerbrechlich, von derselben nahezu luziden Durchlässigkeit wie ihr Sohn. Doch anders als Justus legte sie eine Contenance an den Tag, die Mühlthal eigentlich nicht unangenehm war, die er insgeheim sogar bewunderte. Er mochte sie irgendwie. Ja, bisweilen empfand er ein schmerzliches Mitgefühl mit ihr, weil dieses einzige Kind ihr schon von Geburt an immer mehr entglitten war, wie sie ihm schon beim allerersten Mal erzählt hatte, als schäme sie sich dafür, ja, als sei sie schuld daran. Ein fremdes, kühles Wesen, das sie einfach nicht begreifen und längst nicht mehr erreichen konnte, obwohl sie es verzweifelt zu lieben versuchte. Mühlthal hatte sie zu besänftigen versucht und behutsam zu ihr gesagt, es gibt nun mal solche kleinen Wesen, die mit einer Art Entrücktheit auf diese Welt kommen, als wären sie von einem fremden Stern. Im selben Moment hatte er es bereut, von Justus im Grunde wie von einem Alien zu sprechen. Doch Frau L. hatte nur still zu weinen begonnen und dabei genickt, als wäre Mühlthals gewagte Äußerung vom fremden Stern in diesem Augenblick eine Erleichterung, eine regelrechte Erlösung für sie gewesen. Er kannte Justus seit gut drei Jahren. Sah den Dreizehnjährigen noch vor sich, als er zum ersten Mal zu ihm gekommen war. Ein hochgeschossener, von Pickeln geplagter Junge, schon damals mit einer goldumrahmten Brille, die nicht zu ihm passte, und mit einer Aura der Fremdheit, wie er sie bei einem Kind vorher noch nie erlebt hatte. Und doch hat Mühlthal ihn von Anfang an gemocht, hat viel zu deutlich den schmalen Grat gesehen, auf dem der Jugendliche balancierte. In den ersten Wochen zeichnete Justus ausschließlich Eisenbahnen, Züge und komplizierte Gleisstrukturen, die Mühlthal wie ein Labyrinth vorkamen, aus dem es kein Entkommen gab. Der Junge redete kaum, antwortete verzögert, wobei er dann oft eine Gegenfrage stellte, die Mühlthal nicht selten aus der Fassung brachte. Auf die Frage, wie denn seine Schulwoche gewesen sei oder ob er inzwischen mit seinem Zimmernachbar zurechtkomme, fragte Justus ihn zum Beispiel, meinen Sie nicht, dass diese Frage überflüssig ist, weil Sie die Antwort eh schon kennen. Das war natürlich provokant und pubertär, eine altklug ausgespuckte, rhetorische Frage, die ihn verärgerte, weil er sich entlarvt fühlte, obwohl er sie durchschaute. Einen Moment lang hatte er keine Lust mehr gehabt, sich überhaupt noch nach seinem Schützling zu erkundigen. Als überkäme ihn derselbe kalte Trotz wie der dieses jungen Schnösels, der zudem keinerlei Notiz zu nehmen schien von ihm. Doch Mühlthal begann Justus‘ Strategie allmählich besser zu verstehen. Reagierte mit Humor oder oftmals sogar paradox, indem er ihm unerschütterlich weitere Fragen stellte oder einfach sagte, du hast vollkommen Recht oder du hast mich mal wieder durchschaut oder du wärst ein super Kläger vor Gericht. Damit schien er den Jungen zu erreichen, der dann hin und wieder vor sich hin grinste oder ihn sogar kurz anblickte, mit diesen großen blauen Augen, die ihn immer schon an einen Meeresgrund erinnern. Mühlthal steht auf und geht eine Weile lang hin und her. Denkt an seine vergeblichen Versuche, Justus etwa nach einem Jahr in die Gruppe zu integrieren, ihn mehrfach in der Woche zu sehen oder ihn dazu zu bringen, ihm von den guten und den schlechten Erfahrungen in seinem jungen Leben zu erzählen. Der Junge blieb bei seinen Eisenbahnen. Und irgendwann war das Chaos in seinen Zeichnungen ausgebrochen. Soweit Mühlthal sich entsinnen konnte, was das kurz nach Aufnahme der gerichtlichen Verhandlungen geschehen, die sein Vater unerbittlich vorangetrieben hatte, um ihn nach Hause zurückzuholen. Zuerst waren es Zerstörungsakte von erschreckender Wucht, das Zerfetzen seiner Zeichnungen, was Mühlthal nicht verhindern hatte können, einmal sogar das Zerbrechen seiner Brille, deren Gläser und Bügel er gewaltsam in einen Klumpen Ton quetschte, als wäre das sein eigenes Fleisch. Es war unerträglich für Mühlthal gewesen Justus dabei zuzusehen, ihn nicht davon abhalten zu können, selbst wenn er sanft versuchte ihm die Hände festzuhalten oder ihn anflehte aufzustehen und damit aufzuhören. Erst nach und nach fand die Wut des Jungen wieder ganz aufs Papier zurück, etwa zu dem Zeitpunkt, als Mühlthal ihm das erste Skizzenbuch und ein Set mit unterschiedlich harten und weichen Bleistiften gegeben hatte. Das brachte eine Wendung, die ihn damals selbst überrascht hatte, eine Art Metamorphose im Ausdruck. Justus versank fortan ins Zeichnen, wirkte selbstvergessen und vertieft in seine Experimente mit Stift und Papier, mit Spucke und Kohlestaub, Cuttermessern und sogar Nägeln. Nie mehr kam es vor, dass er sich in seiner Gegenwart oder während des Zeichnens selbst verletzte, obwohl Mühlthal bewusst war, dass er es dennoch tat, direkt vor seinen Augen, wenn auch auf der Haut des Papiers, bis auf die Sehnen, Muskeln und Knochen des lebendig werdenden Materials hinunter. Er sagte oft zu ihm, wie sehr es ihm wehtue ihm dabei zuzuschauen, wie groß und unaussprechlich der Selbsthass und Schmerz wohl sein müssten. Er musste reden, bevor der Junge sich in seinem Rausch wieder vollständig verlor, musste bezeugen, was er sah und vor allem kundtun, was er dabei fühlte. Das war eine Gewissheit, eine Überzeugung, die er aufrechterhielt, so sehr Justus sich auch dagegen wehrte, mit Ignoranz oder Verachtung reagierte, die Versuche ihn zu schützen ins Lächerliche zog. Darauf ist Mühlthal bis heute stolz, dass er sich davon nicht mehr hat beirren lassen, sich im Gegenteil auf seine Zeugenschaft, auf das Widerspiegeln des Erlebten zu konzentrieren. Wenn Sie den Kram anschauen und etwas dazu sagen, hat Justus gestern gesagt, dann macht es irgendwie Sinn. Ob das allerdings ausreicht, denkt Mühlthal, bleibt weiterhin fraglich. Seit dieses Sorgenkind, denn das ist der Junge für ihn, wieder bei den Eltern wohnt, nimmt er seine Skizzenbücher mit und bringt sie hierher, damit Mühlthal irgendetwas dazu sagt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mühlthal sieht, er kann förmlich wittern, wenn der Vater da ist und wann er nicht zu Hause ist. Er ahnt, kann inzwischen recht genau voraussehen, wenn Justus schleichend in eine nächste Krisis gleitet, die ihn bedroht. Dann ruft er die Mutter an und schlägt Alarm. Er teilt es dem Jungen vorher mit, sagt ihm, ich bin in großer Sorge um dich, deshalb werde ich mich jetzt mit deiner Mutter beraten. Beim ersten Mal ist Justus aufgestanden, hat wortlos sein Buch genommen und ist einfach rausgegangen. Mühlthal ist ihm hinterhergerannt und hat ihn gerade noch gesehen, als er in den Bus gestiegen ist. Doch inzwischen bleibt der Junge sitzen. Hört reglos, aber aufmerksam zu, wenn Mühlthal mit seiner Mutter telefoniert. Und vor etwa einem halben Jahr hat er sogar abgewartet, bis sie kam, um ihn direkt in die Klinik zu bringen. Sie sind der einzige Mensch, dem er ein bisschen vertraut, hat sie ihm damals beim Hinausgehen noch zugeflüstert. Es klang dankbar und resigniert zugleich, findet Mühlthal und fragt sich, nein, zweifelt erneut daran, dass dieses bisschen Vertrauen überhaupt ausreicht. Er geht zum Rauchen noch einmal nach draußen, kehrt zurück an seinen Platz und schreibt: Justus nimmt nach wie vor regelmäßig seine Termine bei mir wahr, wenngleich er den geplanten wöchentlichen Rhythmus selten einhält. Seit den letzten vier Sitzungen fällt mir eine erneut wachsende Anspannung bei ihm auf, die er einerseits besser zu regulieren vermag als noch vor einem halben Jahr, die jedoch auf eine erneut gesteigerte seelische Belastung hindeuten dürfte. Entsprechend habe ich die Mutter umgehend verständigt, die mit der Ambulanz der behandelnden Klinik kontinuierlich in Austausch steht, zumal sie Justus bei seinen monatlich dort anberaumten Gesprächsterminen begleitet. Trotz seiner anhaltend massiv gefährdeten Lebenssituation, die von einer chronischen, wenn auch streckenweise latenten Suizidalität begleitet wird, schätze ich seine anhaltenden Gestaltungsimpulse in Form selbständig fortgeführter Zeichnungen und Materialbilder sowie den Wunsch nach Spiegelung meinerseits als grundsätzlich positive Entwicklung. Dahingehend beschrieb Justus in der letzten Stunde auf meine Nachfrage hin sowohl eine situative Entlastung während des Zeichnens sowie eine Art Sinnstiftung durch die gemeinsame Werkschau und in diesem Zusammenhang vor allem durch meine Verbalisierung des Beschreib- und Wahrnehmbaren. Die in der Vergangenheit bereits wiederholt von mir hervorgehobene Notwendigkeit einer kontinuierlichen Fortsetzung der entstandenen Beziehungsallianz findet meines Erachtens in dieser jüngsten Reflexion des Jugendlichen eine erfreuliche Bestätigung. Davon ausgehend werde ich künftig auch Justus‘ sprachliche Kommunikationsbereitschaft und sein Introspektionsvermögen zu fördern versuchen, indem ich ihn zu einer phänomenologischen und möglichst auch motivationalen Beschreibung seiner Arbeiten einlade. Ferner werde ich meine spiegelnden und kommentierenden Interventionen beibehalten, wobei ich den Fokus allmählich weniger auf die Werkebene richten, sondern sukzessive direkt auf ihn verlagern werde. Mühlthal verkneift es sich mitzuteilen, dass genau das beim letzten Mal Früchte getragen hat. Er fragt sich überhaupt, ob diese Absichtserklärung als regelrechte Zielstellung durchgeht, die er letztlich dann schlüssig begründen müsste, selbst wenn es auf der Hand läge, was mit diesem Fokus direkt auf die Person eigentlich gemeint ist. Wozu sollte er von drohender, gar psychotischer Ich-Auflösung auf der Grundlage einer infantilen, also schwach ausgereiften Persönlichkeitsstruktur schreiben, von früher Bindungsstörung und maligner Regression sprechen. Alles Gequatsche, findet Mühlthal, theoretische Hybris, die vom Eigentlichen ablenkt und Justus allenfalls in den klinischen Orbit katapultieren würde. Zudem brachte es ihm selbst nichts in dieser halb empirischen, halb fachlichen Sprache zu berichten. Diesen Ehrgeiz hat er vor vielen Jahren aufgegeben, als er noch im Kasten gearbeitet hat und einige Kollegen sich lustig gemacht hatten, wenn er davon sprach, dass ihn etwas besonders tief berührt oder er sich ohnmächtig gefühlt habe. Das wollte keiner hören. Und er seinerseits wollte die Berichte dieser Kollegen nicht lesen, die über ein Ereignis umso abstrakter schrieben, je gravierender es eigentlich war. Die im jüngstem Fall nach Justus‘ letzter stationären Behandlung lediglich sachlich mitteilten, der Junge habe in suizidaler Absicht Löschschaum aus einem Feuerlöscher getrunken, Scherben geschluckt oder sich mit einem Gürtel zu erhängen versucht, obwohl er dem Personal gegenüber beteuert habe, es nicht zu tun. Ganz zu schweigen von den darauf erfolgten Zwangsmaßnahmen, die Mühlthal sich nicht auszumalen wagte. Es fällt ihm jetzt wieder ein, wie sicher er sich erst gestern gewesen war, dass Justus sich eines Tages umbringen werde. Wie absurd und hilflos dann alle Bemühungen gewesen wären, ihn davon abhalten, ihm sein haltloses, getriebenes und verlorenes Dasein erleichtern zu wollen, die infernalische Verwirrung in ihm auflösen und seinen mörderischen Selbsthass lindern zu können. Mühlthal kann sich gegen diese über ihn hereinbrechende Resignation nur schwach wehren. Er überlegt einen Moment lang, ob er Frau L. anrufen soll, um sie einfach zu fragen, wie es ihr selbst zurzeit ergehe. Aber dann stellt er sich vor, wie sie auf dem Display seine Nummer erkennen und sogleich panisch werden würde, dass etwas Schlimmes mit Justus passiert sein könnte. Er lässt es also sein, überfliegt seinen kurzen Bericht und speichert ihn ab. Er steht auf, reibt sich das Gesicht und lässt seine Hände eine Weile lang auf den Augen liegen, als wäre er selbst der Verzweifelte und nicht Justus, der es nicht mehr erträgt, etwas zu sehen, was wiederum nicht auszuhalten wäre. Er geht nach drüben in die Teeküche, steckt sich ein paar vertrocknete Kekse in den Mund und öffnet das Fenster weit, um ausnahmsweise drinnen zu rauchen. Kurz nach zehn, er hat noch Zeit bis zur zweiten Pause. Es ist ihm bewusst, wie fatal sein Gefühl von Hoffnungslosigkeit an sich ist, weil es unterschwellig in seine Arbeit mit Justus hinfließt, einfach weil der Junge es spüren wird, wie er jedes Mal spürt, wenn etwas anders ist mit Mühlthal, auf fast unheimliche Weise, denkt er. Also entscheidet er sich, mehrmals laut vor sich hin zu sagen, Justus, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und er nimmt sich vor, außer über Eli dringend auch über ihn zu sprechen, falls Max ihn abends tatsächlich zurückrufen sollte. Oder eigentlich über sich selbst und seine Angst, den Jungen von einem anderen Stern eines Tages zu verlieren.

 

10:35 Robin

Gerade hat Mühlthal die schmale Akte von Mirjam aufgeschlagen, als jemand zaghaft an die Tür klopft. Er weiß nicht, ob er dankbar ist für diese Störung oder nicht. Es ist der kleine Robin, der wie immer einen Elch mit sich herumschleppt, der fast genauso groß ist wie er selbst. Das Kind lutscht Daumen und kommt hereinspaziert. Na, mein Kleiner, fragt Mühlthal, hat dir denn keiner Bescheid gesagt, dass wir heute gar nicht miteinander spielen können. Robin steht in einem Streifen Sonnenlicht, das hereinfällt und seinen roten Haarschopf aufleuchten lässt. Er schaut Mühlthal ratlos an und nuckelt ein wenig heftiger an seinem Daumen als vorher, drückt eins der Plüschgeweihe an sein Gesicht und schüttelt leicht den Kopf. Na dann, sagt Mühlthal, ich begleite dich zurück zu den anderen. Er kommt nicht umhin, die kleine Hand mit dem nassen Daumen in seine zu nehmen und langsam loszugehen, wobei er den Jungen eher hinter sich herzieht. Denn der folgt ihm zwar klaglos, wirkt jedoch verstört, weil ihn das alles hier offensichtlich aus dem Konzept gebracht hat. Vor dem Wohntrakt angekommen, klingelt Mühlthal und wartet mit Robin an der Hand, der ihn immer noch anschaut und inzwischen an einer der Hufe seines Stofftiers zu lutschen begonnen hat. Er überlegt kurz, ob er das Kind auf den Arm heben und so darauf warten soll, dass jemand ihnen aufmacht. Da hört er den Summer und gleichzeitig die Stimme von Paula, die für die ganz Kleinen zuständig ist. Eine kleine, dralle, gemütliche, vor allem herzensgute Frau in Mühlthals Alter, die damals fast zur gleichen Zeit wie er hier angefangen hatte. Er ist froh, dass sie es ist und nicht Daniel, der von der Notwendigkeit militärischer Regeln und Grenzsetzung bereits in der Früherziehung fest überzeugt ist, oder die junge Margot, die ständig am Handy hängt und möchte, dass man sie mit Margó anspricht und ja nichts zu ihrem freizügigen Kleidungsstil sagt, wegen dem sie von dem Wohnbereich der Jugendlichen zu den Kleinen versetzt worden ist, weil sie ihn partout nicht ändern wollte. Er findet sie nicht geeignet, hätte sie gefeuert, wenn es nach ihm gegangen wäre. Paula freut sich über Mühlthal und begrüßt Robin derart zärtlich und überschwänglich, als hätten sie sich beide wochenlang nicht gesehen. Genau das liebt Mühlthal an ihr. Diese echte, unverhohlene Freude über jedes Kind, vor allem aber ihre zärtliche Art, mit der sie diese an sich drückt, sie umarmt, herzt und innig mit ihnen kuschelt. Die brauchen das, sagt sie dann, wenn jemand fragend guckt. Auch Mühlthal weiß, wie sehr die Kleinen das brauchen und muss sich selbst manchmal zusammennehmen, eins der kleinen Wesen nicht genauso zu liebkosen wie Paula es macht. Am liebsten wäre er jetzt bei Paula und Robin geblieben, hätte die Limonade getrunken, die es hier gab, oder sich mit den beiden im Spielzimmer auf den Boden gehockt, um einen Turm aus Klötzen zu errichten und diesen wieder zu zerstören. Denn das ist Robins Lieblingsspiel, wenn er zu ihm kommt. Er baut entweder mit der linken Hand, weil er in der rechten seinen Elch festhalten muss, oder mit der rechten, wenn am linken Daumen lutschen will. Doch jedes Mal schmeißt er hinterher mit beiden Händen den Turm wieder um, kurz bevor der von selbst die Balance verliert. Steht dann stramm vor Mühlthal, lächelt und strahlt ihn an. Aber der Kleine sagt nichts. Er hat noch nie etwas gesagt, seit er hier wohnt. Grundsätzlich macht er kein Geräusch, weder durch Weinen, Jammern oder Lachen. Diese Stille, die von ihm ausgeht, macht ihn entweder unsichtbar oder aber verleiht ihm eine Gegenwärtigkeit, die Mühlthal oft verblüfft. Auch Robin ist so ein Kind, das ich gern adoptieren würde, denkt er manchmal insgeheim. Als der kleine Junge diesmal zu seiner Überraschung mit beiden Händchen die ersten Klötze zu stapeln beginnt, wobei er den Riesenelch wie selbstverständlich Paulas Obhut überlassen hat, die jetzt direkt neben ihm hockt, verabschiedet Mühlthal sich und kehrt ins Atelier zurück.

 

10:55 Mühlthal berichtet über Mirjam

Also die kleine Mirjam als nächstes, denkt er und erinnert sich daran, dringend noch ihre Mutter einladen zu müssen. Er ruft sie an, spricht ihr auf die Mailbox, ganz freundlich, obwohl er eigentlich ziemlich wütend auf sie ist. Diese junge Frau, die sich mit Anfang Zwanzig selbst noch wie ein Kind verhält. Ihr Leben nicht auf die Reihe bringt, trotz der Hilfe von allen Seiten, bis vor kurzem noch von der eigenen Mutter und einer Erziehungshelferin. Marlene M. lässt also ihre vierjährige Tochter stundenlang allein. Das hat er gestern erfahren. Sie geht gern aus, feiert und trinkt beim Feiern zu viel, wie Mühlthal aus dem Bericht des Jugendamts weiß. Eine junge Frau, die mit fünfzehn schwanger geworden ist. Von ihrem allerersten Freund, der kurz nach der Geburt seiner Tochter vor der Verantwortung geflüchtet ist. Und er hätte sie tragen können, denkt Mühlthal, zumal er neun Jahre älter ist als Mirjams Mutter und gut verdient, wenn er sich recht erinnert. Das einzige, was er für sein Kind jemals getan hat, sind kitschige Anlasskarten oder zum Geburtstag ein Haufen Geschenke. Und jedes Mal Berge von Süßigkeiten, wie die Betreuer berichten. Er hält die Sehnsucht seiner Tochter aufrecht, dieser Feigling, denkt Mühlthal, er schürt immer weiter die Hoffnung bei der Kleinen und ahnt wahrscheinlich überhaupt nicht, was er damit anrichtet. Marcel, so heißt er, fällt Mühlthal jetzt ein, ich habe keine Ahnung mehr, wie sein Nachname lautet. Alles Vornamen mit M., stellt er fest, wie einfallsreich. Er merkt, wie schwer es ihm heute fällt, den Ärger über Mirjams Eltern loszuwerden. Auch sein Unverständnis für die Großmutter, die ihre Tochter in den ersten beiden Jahren zu den Gesprächsterminen begleitet hatte. Eine unangenehme Person, an die er nicht gern denkt. Denn schon beim ersten Mal stellte sie ihre Enkelin bloß, beschämte die Kleine, weil sie sich eingenässt hatte, wies das Kind zurecht, als es vor sich hinträumte. Mirjam konnte dieser Oma nichts recht machen. Sie sei halt ein dummer Unfall gewesen, hat die Frau gesagt, sogar in Gegenwart ihrer Tochter, die diesen dummen Unfall verschuldet und sich gegen diesen Vorwurf nicht zur Wehr gesetzt hat. Vor allem aber hat sie in Gegenwart ihrer Enkelin davon geredet, die somit nicht nur das schuldlose Ergebnis einer unverzeihlichen Dummheit, sondern vielmehr als kleiner Mensch selbst nichts anderes als ein einziger Unfall ist. Mühlthal weiß, dass er weder in Anwesenheit des Kindes noch generell gegenüber Angehörigen laut werden darf. Er muss freundlich und zugewandt bleiben und zugleich das Kind in Schutz nehmen. Muss seine Vorwürfe und seine Ungehaltenheit hinter Fragen verstecken, von wem sich Mirjam zum Beispiel geliebt fühlen würde oder welche einmalige und besondere Eigenschaften sie besitze oder was sie dem kleinen Mädchen Schönes wünschen würden. Zumindest hat Mühlthal die beiden Frauen zum Nachdenken gebracht. Eine Antwort von ihnen kam selten. Einmal hat Mirjams Mutter lächelnd zugegeben, dass sie den bunten, verrückten Kleidungsstil ihrer Tochter gern möge. Woraufhin ihre Mutter nur verächtlich geschnaubt und gesagt hat, stimmt, du dumme Gans, du lässt die rumlaufen wie eine Hippiebraut. Irgendwann ist Mühlthal dann doch der Kragen geplatzt und er hat die Großmutter gebeten sofort den Raum zu verlassen und zu verschwinden. Dabei ist er laut geworden. Er finde ihre Äußerungen nicht nur unfassbar ärgerlich, beschämend und verletzend, sondern geradezu bösartig. Es wolle ihm nicht in den Kopf gehen, wie sie als erwachsene Frau ein Kind derartig vernichten und verachten könne. Und wenn es nach ihm ginge, sollte ihr der Kontakt zu Mirjam untersagt werden. Sie war aufgesprungen und hatte ihn angebrüllt, was bilden Sie sich ein, Sie werden noch von mir hören, darauf können Sie einen lassen, war raus und hatte die Türe hinter sich zugeknallt. Es war das einzige Mal gewesen, dass Marlene M. in seinem Beisein ihre Tochter Mirjam schützend zu sich gezogen und sie beruhigend gestreichelt hatte. Und Mühlthal erinnert sich an sein damaliges tiefes Gefühl der Genugtuung und einer neuen Art Verbundenheit mit Mutter und Kind. Auch Frau M. verhielt sich ihm gegenüber seit diesem Ereignis anders. Als sei er nicht nur ein netter Onkel für ihre Tochter, sondern, als habe er sich wie ein Vater auch vor sie hingestellt und sie gegen ihre Mutter verteidigt. Entgegen deren Androhung war dann hinterher nichts passiert. Kein Fengler hatte ihn niedergemacht. Kein Kollege war gekommen, um zu fragen, was denn da losgewesen sei. Nur Mühlthal selbst hatte sich über sich geärgert und lange mit seinem Freund Max darüber gesprochen, weshalb er so ausgerastet war oder vielmehr, warum er sich möglicherweise nicht mehr zusammennehmen hatte können. Er steht auf und geht auf die Straße, um den Kopf freizubekommen und zu rauchen. Ein Schwarm Stare wirbelt zwitschernd und schnatternd über seinem Kopf hinweg in Richtung Park. Er hat nie begriffen, wie die Tiere bei derart blitzschnellen Richtungswechseln überhaupt zusammenbleiben konnten, eine Girlande kleiner rasender Körper, die wie ein im Wind davonflatterndes Band jetzt hinter den Dächern verschwindet. Er geht wieder hinein und wartet auf den ersten Satz. Der schon bald auftaucht: Mirjam arbeitet seit etwa einem halben Jahr am Tonkasten. Nach einer ausgedehnten Erkundung des Materials im Zusammenspiel mit Wasser während der ersten Wochen beginnt sie zunehmend deutlicher die Grenze zwischen sich und dem Ton wahrzunehmen sowie abgegrenzte und eigenständig handelnde Objekte zu modellieren. Aktuell scheint es vorrangig um die sichere Wiederherstellung von Kontrolle und um den Kompensationsversuch bezüglich mangelhafter oder gänzlich fehlender elterlicher Versorgung zu gehen. So gestaltet sie im Anschluss nach einer ausgiebigen Vergewisserung des hinreichend sicheren Terrains schützende Höhlen, Hütten oder Schlösser, deren Ein- und Ausgang sie selbst bestimmt (Kontrolle) oder aber von einem positiv fürsorglichen Eltern-Objekt bewachen lässt. Neu ist hierbei die Bedeutung des Vaters, der von ihr als liebevoller und fürsorglicher Partner beschrieben wird, der auf sie warte, bis sie einmal groß sei, um sie dann endlich ganz zu sich zu nehmen. Diese durchaus altersgerechte Projektion des Mädchens auf den (abwesenden) Vater geht vor allem einher mit einer ersten, expliziten Aversion ihrer Mutter gegenüber, die Mirjam in dieser Form zuvor noch nicht fähig war zu äußern. Erst in der gewissermaßen von ihr selbst „reparierten“ Ursprungstriade (Vater-Mutter-Kind) kann sie offenbar ihre aggressiven und destruktiven Impulse zeigen, ohne diese als zu bedrohlich oder vernichtend zu erleben. In der Wiederholung des Aktes der Selbstbehauptung einerseits sowie der Aktivierung potenziell stützender, elterlicher Anteile zeichnen sich somit erste progressive Integrationsversuche ab, die einen nächsten Reifeschritt ankündigen könnten. In diesem Zusammenhang wird außerdem deutlich, dass Mirjam auch die anhaltenden Vernachlässigungen seitens ihrer Mutter mit Gefühlen der Verlassenheit, Angst und Verzweiflung in Verbindung bringen kann. Die offensichtlich weiterhin untragbare häusliche Situation, die nicht zuletzt eine fortgesetzt massive Überforderung und Hilflosigkeit der Mutter verrät, wirft durchaus die Frage auf, ob nicht eine vollständige Unterbringung des Kindes inzwischen notwendig wäre, um Mirjam eine altersgemäße Entwicklung und ein Wohlergehen in einem beschützten Rahmen zu ermöglichen. Parallel dazu könnte auch der Mutter in dieser sie primär entlastenden Konstellation neben ihrer eigenen Stabilisierung und Nachreifung vor allem eine Wiederannäherung an ihre Tochter gelingen. Mühlthal seufzt. Er denkt, das ist doch alles bloß reine Spekulation. Er hat das ungute Gefühl erneut zu weit abgedriftet zu sein. Sein Augenmerk zu sehr vom Mädchen weg und hin auf seine offenkundig untaugliche Umgebung gerichtet zu haben. Zugleich ist er aber auch davon überzeugt, dass es nur so gehen kann, wenn er seinem Verständnis von den sich gegenseitig bedingenden Einflüssen, Prägungen und unentrinnbaren Verstrickungen innerhalb eines Familiensystems treu bleiben will. Gerade wenn dieses System so fürchterlich verkorkst und marode ist wie hier, denkt er. Er speichert den Bericht, ohne ihn nochmals zu lesen. Sein Kopfweh ist zurückgekehrt. Er öffnet das Fenster, schaut einem Müllwagen nach, an dem sich ein Mann mit einer Hand festhält, mit dem er keineswegs den Job tauschen möchte, obwohl er für heute absolut keine Lust mehr hat weiterzuarbeiten. Paul und Luca noch, denkt er, okay, das sind dann die von gestern, die andren müssen schneller gehen. Einundzwanzig weitere Berichte. Er sollte den Anspruch herunterschrauben, das sagt auch Cara immer wieder zu ihm. Und Max meint beinahe jedes Mal, das liest doch eh kein Schwein, Basti. Mühlthal vermutet, dass der Freund ihm sogar unterstellt seine Arbeit viel zu ernst und zu wichtig zu nehmen, ja im Grunde zu eitel zu sein. Er geht in den Pausenraum und holt sich eine Tasse Kaffee, mit dem er eine zweite Schmerztablette herunterspült.

 

11:35 Mühlthal berichtet über Paul

Er setzt sich und blättert in Pauls Akte. Ihm fällt ein Foto entgegen, das den Jungen vor neun Jahren zeigt, offenbar anlässlich seiner Einschulung. Unverkennbar, stellt Mühlthal fest, das blasse, pausbackige Kindergesicht, das den Fotografen anstarrt wie einen potenziellen Feind, ein glasiger Blick durch zwei schmale Sehschlitze, die dem Ganzen etwas Maskenhaftes verleihen. Als Paul vor vier Jahren das erste Mal zu ihm gekommen war, begleitet von seinen Eltern, die ihm irgendwie gemütlich groß und dick vorgekommen waren, fand er den Jungen unheimlich, kaum greifbar. Paul blieb während des gesamten Gesprächs hinter seiner Mutter versteckt, als wäre er ihr Schatten, und beobachtete Mühlthal durch die schmale Lücke zwischen ihr und seinem Vater. Weder die Eltern noch er hatten ein einziges Wort an ihn gerichtet, als wäre es selbstverständlich, dass der Elfjährige nichts sagen würde, als wäre er gar nicht mit im Raum, obwohl eine gewisse kühle Feindseligkeit von ihm ausging, fand Mühlthal damals. Die Sch. waren liebenswürdige Leute. Sie sprachen freundlich und geduldig über ihren Sohn, erwähnten mit keiner Silbe, wie schwer sie es wahrscheinlich im Alltag mit dem Jungen hatten, der sich seit Monaten weigerte, sein Zimmer zu verlassen, um in die Schule zu gehen, der keine Freunde hatte und von seinen Mitschülern gehänselt oder gemieden wurde, weil er nicht mit ihnen redete oder spielte, weil er ungeschickt und dick war und keiner ihn so recht einschätzen konnte. Herr Sch. erklärte Mühlthal, es liege wahrscheinlich in seiner eigenen Familie, dass Paul so sei wie er sei. Er ist meinem großem Bruder total ähnlich, sagte er, als sei das ein schönes Kompliment. Alles müsse jeden Tag in genau derselben Weise ablaufen, vom Aufstehen an, über die Auswahl der immer gleichen Kleidung und identischer Speisen, den Ritualen vor dem Verlassen des Hauses, dem Abzählen der Treppen und Laternenmasten bis zu einem bestimmten, bekannten Ziel, bis hin zum Abend, an dem die Bettdecke um punkt Viertel nach sechs Uhr in exakt der gleichen Art aufgeschlagen sein müsse. Mühlthal fragte nach, was passiere, wenn diese peinliche Ordnung einmal nicht eingehalten werde. Die Eltern schauten sich kurz an, als wollten sie sich vergewissern, dass sie ihr Kind nicht verrieten, wenn sie Mühlthal gleich davon berichteten. Dann schreit und tobt er und schmeißt mit Sachen um sich, antwortete Pauls Vater. Bis wir die Störung beseitigt haben, also die Abweichung vom Vertrauten. Dann beruhigt er sich irgendwann wieder. Ihn in diesem Zustand anzusprechen, hilft gar nichts, haben wir festgestellt, erklärte Frau Sch., im Gegenteil, vor allem Berührungen sind ganz schrecklich für Paul, also generell. Und seit er weiß, dass er bald ein kleines Geschwister bekommen wird, hat er sich noch mehr zurückgezogen. Mühlthal gratulierte den Eltern zu dem freudigen Ereignis. Gleichzeitig fühlte er sich hilflos wie ein Anfänger, wusste nicht, wie er das Kind erreichen sollte, ob es überhaupt etwas gab, wofür Paul sich interessierte. Als könne der Vater seine Gedanken lesen, verriet er ihm jetzt, dass Paul für Super- oder Spiderman schwärme und sich für bauliche Konstruktionen jeglicher Art begeistere. Und er sitzt gern vor der Waschmaschine, ergänzte die Mutter lachend, und schaut sich den Waschgang von Anfang bis Ende an, als wäre es ein superspannender Film. Mühlthal hatte damals trocken aufgelacht und den Eltern dann viel zu umständlich erklärt, was ihr Sohn bei ihm im Atelier möglicherweise machen könnte und wozu das seiner Erfahrung nach durchaus sinnvoll für ihn wäre. Er war den Eltern unbeschreiblich dankbar, als sie danach ganz neugierig und ungezwungen nachfragten, sich umschauten und abschließend meinten, das sei ein supertolles Angebot und es werde Paul hier bestimmt supergut gefallen und keiner von ihnen erwarte Wunder was. Hauptsache, er kann regelmäßig herkommen und verlässt endlich wieder das Haus, meinte die Mutter noch. Mühlthal erinnert sich an seine große Nervosität vor dem ersten Termin mit Paul. Er hatte sich am Abend zuvor noch länger mit Max beraten und sich vorgenommen, aus jeder Handlung, jedem Wort und jeder noch so kleinen Geste von Anfang an konsequent ein Ritual zu machen. Als Paul dann erschien, superpünktlich aus der Deckung hinter seiner Mutter trat, die ihn dieses eine Mal noch begleitet hatte, er sich dann mit überraschender Zielstrebigkeit einen Platz am Tisch auswählte, wo er regungslos abwartete, bis Mühlthal die Tür geschlossen und ihn begrüßt hatte, war alles wie von selbst gegangen. Paul hat es mir und wahrscheinlich auch sich selbst von Anfang an leicht gemacht, denkt er rückblickend. Und ist froh, dass er kein einziges Mal miterleben musste, wie der Junge toben und schreien und Sachen schmeißen kann. Drei Jahre lang kam er zwei Mal in der Woche zu ihm und seit er vor einem Jahr Schach in einem Schachverein zu spielen begonnen hat, sogar nur noch einmal. Mühlthal, der nichts mit Schach anfangen kann, ist froh, dass Paul nach wie vor seinen Spidy mitbringt und dass er seit seiner ersten Stunde bei ihm gern zeichnet. Unter der Voraussetzung, dass er jeweils Kekse und Limonade einer bestimmten Marke vor sich stehen hat. Was aber soll Mühlthal schreiben über ein Kind, das gleichsam in anderen zeitlichen und räumlichen Dimensionen lebt und dessen scheinbar immergleiche Wiederholungen seit Jahren nicht etwa eine Entwicklungsverzögerung bedeuten, sondern den eigentlichen Erfolg ausmachen, den Mühlthal unter Umständen für sich und den Jungen verbuchen könnte. Der Zeitraum eines Vierteljahres ist gar nichts, sagt er sich, aber gut, auf der anderen Seite ist Paul vielleicht wirklich einen Tuck redseliger geworden. Er schreibt: Paul scheinen die vertrauten Rituale, die in der Vergangenheit bereits mehrfach von mir beschrieben worden sind, auch im weiteren Verlauf zu stabilisieren und ihm eine Möglichkeit zu geben, seine Erlebnisse und Gedanken zeichnerisch zum Ausdruck zu bringen. Bemerkenswert ist, dass etwa seit den letzten fünf Sitzungen zunehmend auch figürliche Darstellungen von Personen auftauchen, die mit dem verlässlichen Stereotyp Spiderman in Interaktion treten. Auch wenn Paul nach wie vor die Vogelperspektive wählt (Distanz) und bisher noch keine reale Stellvertretergestalt für sich selbst gefunden hat, wirkt der Kontakt zwischen dem omnipotenten Helden und den ausnahmslos von diesem geretteten Figuren durchaus lebendiger und gleichsam natürlicher. So gesehen könnte man von einer ersten, noch blanden Ablösung von den ausschließlich magischen Größenanteilen sprechen, die Paul (als Spiderman) bisher ermöglicht haben dürften, mit einer für ihn durchwegs bedrohlichen und undurchschaubaren Welt zurechtzukommen. Für diese Annahme würde außerdem sprechen, dass er in den jüngsten Werkbetrachtungen wesentlich mehr und flüssiger erzählen konnte als bisher und dass diese Erzählungen eindeutig realitätsnäher wirken. Ob dem Jungen bereits eine tatsächliche Unterscheidung zwischen fiktionalem und realem Narrativ gelingt, bleibt fraglos spekulativ. Festzuhalten gilt, dass zum ersten Mal Pauls Schwester, sein Onkel (väterlicherseits) und offenbar ein Junge aus dem Schachclub in die Gestaltung sowie die Handlungskulisse einbezogen worden sind, die bisher ausschließlich allgemeingültig, also von Pauls Lebenswirklichkeit strikt getrennt dargestellt worden ist. Mühlthal überlegt, ob er an dieser Stelle noch ergänzen soll, dass der Junge im Vergleich zu früher wesentlich deutlicher und direkter auf ihn reagiert, dass er ihm inzwischen verbal und auch nonverbal signalisieren kann, was er denkt und ein klein bisschen sogar, was er fühlt. Das sollte ich mir fürs nächste Mal aufheben, beschließt er, macht sich mit Bleistift eine Notiz auf ein Post-it: Paul im Kontakt deutlich spürbarer, atmosphärisch „wärmer“, klebt das Memo auf das Deckblatt und klappt die Akte zu. Er schaut auf die Uhr, kurz vor zwölf. Zeit für eine Zigarette, denkt er, dann Endspurt vor der Mittagspause.

 

12:10 Mühlthal berichtet über Luca

Lucas Akte ist dick. Die ersten Notizen und Berichte klingen ähnlich wie die letzten, findet Mühlthal. Er wundert sich jetzt, dass ihm das nicht schon früher aufgefallen ist. Vielleicht liegt es daran, überlegt er, dass ich grad eben über Pauls Veränderungen nachdenken musste, die man erst auf den zweiten Blick erkennen kann. Auch wenn Luca und Paul ganz unterschiedlich sind. Worin sehe ich also die Entwicklung bei Luca, fragt er sich. Er ist ein wenig ratlos. Der Zeichenstil des Jungen ist versierter geworden, das schon. Die Motive sind inzwischen nicht mehr so kindlich und harmlos wie am Anfang, als Luca seine ersten Blackies entwickelt hatte, kleine fiese Monster, die im Laufe der Zeit immer blutrünstiger geworden sind. Doch die Figuren, die er inzwischen aufs Papier bringt, sind in gewisser Weise sadistisch und unzweideutig von den fiebrig erotischen Fantasien eines jungen Mannes durchdrungen, der sich vergeblich nach Nähe und erster sexueller Erfahrung sehnt. Mühlthal beginnt etwas zu verstehen. Begreift Lucas Not, die er geradezu brillant hinter seinem sarkastischen Witz und provokanten Zeichenstil zu verstecken versucht. Denn der Junge hat keine Chance sich altersgemäß zu entwickeln, seine sexuelle Identität zu entfalten, weil er noch immer im Bett seiner Mutter schläft. Mühlthal erinnert sich an sein damaliges Entsetzen, als Luca ihm das wie nebenbei erzählt hatte. Mama und ich haben ein gemeinsames Zimmer, in dem anderen schläft Oma, hat er damals gesagt, die Wohnung ist halt klein. Aber er habe sicher sein eigenes Bett, hatte Mühlthal ihn sofort gefragt. Und Luca hatte nur nö, wozu, geantwortet. Als er daraufhin die Mutter sofort einbestellt hatte, war Lucas Großmutter an deren Stelle bei ihm erschienen und hatte ihre Tochter entschuldigt, die liege mit einer Migräne flach. Mühlthal schickte sie wieder weg und ließ der Mutter ausrichten, wenn sie nicht augenblicklich persönlich zu ihm komme, werde er das Jugendamt verständigen. Er wusste aus dem Vorbericht, dass sie krank war. Hatte von Luca bereits von ihren unzähligen Leiden erfahren, ihren wandernden Schmerzattacken, dem kranken Herzen, dem Diabetes, der chronischen Schlaflosigkeit und diesen wiederkehrenden Phasen, in denen sie das Bett gar nicht mehr verließ, weil sie keinen Antrieb hatte aufzustehen, keinen Sinn darin sah weiterzumachen. Genauso hat Luca es formuliert, Mama sieht wieder mal keinen Sinn weiterzumachen. In diesen Zeiten roch er besonders stark. Wenn Mühlthal ihn dann fragte, was er heute gegessen habe und wer sich überhaupt um den Haushalt kümmere, zuckte der Junge meist nur mit den Schultern. Manchmal war es eine Tüte Chips oder die Großmutter hatte irgendetwas aufgewärmt, was sich für Mühlthal nicht minder ungesund anhörte. Er hatte damals dann kurzerhand die Mutter angerufen, bevor Lucas Großmutter wieder nach Hause kommen würde. Er hatte sie angebellt, was ihr einfalle, mit ihrem ganz offensichtlich schwer pubertierenden Sohn gemeinsam in einem Bett zu schlafen. Und wenn sie das nicht unverzüglich beende, werde er sie wegen Missbrauchs anzeigen, dafür sorgen, dass sie ihr Sorgerecht verliere, ja sogar auch das Umgangsrecht. Frau S. hatte nichts gesagt. Hatte aufgelegt, ohne etwas zu sagen. Und zwei Tage später war Fengler zu ihm hereingestürmt und hatte ihn angebrüllt, was er sich einbilde, seine Kompetenzen derart zu übertreten und ohne Rücksprache mit ihm oder dem Kollegium diese arme kranke Frau S. so infam zu beschimpfen, ihr sogar mit dem Amt und einer Anklage zu drohen, wo die es doch als Alleinerziehende mit diesem schwergestörten Kind und noch dazu nach dem Tod ihres Mannes so schon schwer genug habe. Im Übrigen wisse die Behörde längst Bescheid, dass die häusliche Situation aktuell prekär sei, wobei sich Frau S. bereits auf die Suche nach einer größeren Wohnung gemacht habe. Kurz nach dem Auftritt Fenglers erhielt Mühlthal mit der Post seine erste Ermahnung. Das war inzwischen fünf Jahre her und noch immer lebt Luca mit Mutter und Großmutter in dieser Zweizimmerwohnung. Und Mühlthal gerät seither regelmäßig in Rage darüber. Er muss nur dran denken, da packt ihn eine ohnmächtige Wut, mit der er nicht mehr weiß, wohin damit. In solchen Situationen muss er aufpassen, dass er sein Atelier nicht verwüstet oder Schlimmeres macht. Wie oft hat sich vorgestellt, Fengler die Faust ins Gesicht zu rammen. Er verlässt jetzt den Schreibtisch und läuft eine Weile lang unruhig rauchend die Straße auf und ab, bis er wieder normal denken kann. Um zwanzig vor eins zwingt er sich, zumindest einen kurzen Text zu Luca zu schreiben: Luca S. nimmt seine Termine im Atelier weiterhin pünktlich und regelmäßig wahr. Er gibt an, die vierte Lehrstelle bereits nach drei Tagen wieder aufgegeben zu haben, weil es ihn anöde den ganzen Tag Kopien zu machen und Post zu verteilen. Er sei nun einmal Komikzeichner. Oder er sei Autor eines Graphic Novel, an dem er bereits seit über einem Jahr arbeite. Die somit weiterhin bestehende massive emotionale und wirtschaftliche Abhängigkeit von der Mutter, aus der er sich nach eigener Aussage lösen wolle, sobald sich „irgendetwas“ ergebe, diese Verstrickung also kritisch zu reflektieren ist Luca nach wie vor nicht in der Lage. Auch wenn in seinen Zeichnungen verstärkt Rachemotive und Gewaltfantasien seiner weiblichen Protagonisten, die möglicherweise seine eigenen sexuellen, sadomasochistischen Fantasien szenisch ausagieren, eine beginnende Selbstbehauptung zu erkennen ist, bleibt die inzestuös gefärbte Beziehung zu seiner Mutter für ihn als solche in der Eigenwahrnehmung unzugänglich und tabuisiert. Seine anhaltende Schwärmerei für eine etwa gleichaltrige, ebenfalls kunstaffine junge Frau, könnte an dieser Stelle entsprechend seiner fehlenden proaktiven Impulse als passiv infantil bezeichnet werden. Eine Lösung des an sich adoleszenten Konflikts, der Luca S. in dem Dilemma zwischen gewünschter Intimität und Nähe einerseits, sowie in die unüberwindliche Distanz zu seinem begehrten Gegenüber hält, wird meiner Einschätzung nach sublimiert und auf der Bildebene und in der darauf bezogenen Erzählung bereits durchgespielt. Mühlthal überlegt, ob es sich dabei wirklich um ein Spiel handelt. Er hat mit Luca noch nie über Sexualität oder sexuelle Fantasien gesprochen. Generell ist es ein heikles Thema, mit jungen Menschen darüber zu sprechen, weiß er. Aber die Zeichnungen schreien geradezu danach. Vielleicht mach ich’s beim nächsten Mal, beschließt Mühlthal, speichert den Bericht, schließt die Akten in den Schrank und verlässt das Atelier, um zu Tisch zu gehen. Er mag diesen Ausdruck, er geht gern zu Tisch oder er ist dann zu Tisch, wenn jemand nach ihm suchen sollte. Heute wird er bei Joschas Eck eine Suppe essen. Joscha ist eigentlich Atomphysiker, hat aber irgendwann die Wissenschaft an den Nagel gehängt und eine Kneipe aufgemacht, in der man auch Suppen und Eintöpfe und Sandwiches bestellen kann, die Joschas Frau zubereitet. Joscha redet wenig, worüber Mühlthal froh ist, weil er in seiner Mittagspause seine Ruhe braucht. Er setzt sich nach draußen und raucht, bis ihm die Suppe serviert wird.

 

13:11 Mühlthal trifft zufällig Fengler und dessen Sohn

Er ist gerade dabei, den Suppenteller mit einem Stück Brot auszuputzen, als plötzlich ein etwa zehnjähriger Junge mit Sturzhelm direkt vor seinem Tisch steht und ihn mit schräg gelegtem Kopf anschaut. Dabei läuft ihm ein Faden Sabber aus dem Mund. Mühlthal findet das neugierige Kerlchen nett und schaut sich um, zu wem das Kind gehört. Er kennt es nicht, hat es noch nie hier gesehen. Vielleicht ein neues Heimkind, denkt er. Und da trifft es ihn wie ein Schlag. Hinter dem Jungen sieht er den Fengler, der sich ihm schwitzend und mit puterrotem Gesicht nähert. Er ruft, Thomas, was machst du denn schon wieder. Thomas grinst nur und bewegt seine Hände und Arme aufgeregt, als wolle er unsichtbare Deckel öffnen und wieder zudrehen. Fengler hat Thomas erreicht. Er sagt zu Mühlthal, entschuldigen Sie bitte die Störung, Kollege, mein Sohn ist einfach zu schnell für mich. Er lächelt verlegen. Zum ersten Mal überhaupt sieht Mühlthal den Fengler lächeln, der sich jetzt die Stirn mit einem Taschentuch abtupft und einfach weiterredet. Wir waren grad drüben beim Arzt, sagt er und legt seine Hand sanft in den Nacken des Jungen. Meine Frau ist mit unserer Tochter bei den Schwiegereltern. Mühlthal weiß nicht, ob er das alles überhaupt hören will. Aber etwas in ihm stürzt augenblicklich in sich zusammen. Er steht auf und lädt Fengler und seinen Sohn mit einer etwas vagen Geste ein sich doch zu ihm zu setzen. Tatsächlich nehmen die beiden Platz. Fengler seufzt auf menschliche Weise, findet Mühlthal, und der Junge macht einen Laut, der Eis oder Essen bedeuten könnte. Du willst ein Eis, Thomy, fragt der Vater seinen Sohn, der daraufhin heftig nickt, den Mund aufreißt und seine Arme nach hinten wirft. Also bestellt Fengler bei Joscha ein Schokoladeneis und für sich eine große Apfelschorle. Wir haben uns noch nie außerhalb der Arbeit gesprochen, stellt der dicke, kleine Mann fest, den Mühlthal insgeheim hasst. Schade eigentlich, ergänzt er noch und schaut ihn direkt an. Mühlthal weiß nicht, was er dazu sagen soll. Er schiebt seinen Teller beiseite, als das Eis und die Schorle gebracht werden, und fragt, stört es Sie, wenn ich rauche, stört es dich, Thomas. Beide schütteln den Kopf in einer Weise, die ihm verrät, dass sie miteinander verwandt sind. Fengler trinkt in großen Schlucken. Und der Junge kämpft mit dem langen Löffel, den er in der Faust hält wie einen Beitel. Sein Vater greift nicht ein, was Mühlthal ihm ziemlich hoch anrechnet, lässt seinen Sohn seelenruhig machen, obwohl die Hälfte der Süßspeise daneben landet und T-Shirt und Gesicht verschmiert. Eigentlich könnten wir uns doch endlich mal duzen, finden Sie nicht, fragt der Fengler ihn aus dem Nichts und streckt ihm bereits die fleischige Hand hin, ich bin der Peter. Mühlthal kann nicht anders. Er legt die Kippe ab und sagt nur, Sebastian. Du schaust überrascht aus, sagt Peter und lacht, na ja, okay, ich bin dir ja oft genug auf die Zehen getreten, stimmt’s. Du bist halt ein Sturkopf, Sebastian, und ich bin ein Hitzkopf. Aber eins musst du wissen, dass ich deine Arbeit mit den Kindern schätze. Aus Mühlthals Mund fällt ein ungläubiges echt heraus. Ja, echt, sagt Peter, das meine ich ernst. Wenn ich könnte, würde ich Thomy sofort zu Dir schicken. Aber das geht nicht. Und wieso sollte das nicht gehen, fragt Mühlthal. Aus Prinzip, sagt Fengler sofort. Aha, denkt Mühlthal, da ist es wieder, das Prinzip. Weißt du, Sebastian, ich war Schüler in dem Gymnasium, in dem mein Vater Rektor war. Es war fürchterlich, kann ich dir sagen, und das ist es, was ich meinen Kindern niemals zumuten möchte. Nein, ich will einfach nicht, dass mein Sohn oder meine Tochter an ihrer freien Entfaltung gehindert werden wie ich damals. Oh, das kann ich gut verstehen, hört Mühlthal sich sagen. Er muss sich zusammennehmen, dem Jungen nicht helfen zu wollen und den Löffel aufzuheben, der ihm heruntergefallen ist. Peter Fengler scheint in Plauderlaune zu sein. Und Sebastian Mühlthal, der in seiner Mittagspause gern seine Ruhe hat, muss sich eingestehen, dass es nicht nur unangenehm ist, mit einem Kollegen zu plaudern, mit dem er vorher kein Wort gewechselt hätte. Sie reden von Urlaubsplänen, erzählen sich von ihrer Schulzeit und respektvoll sogar ein bisschen über ihre Frauen. Fengler interessiert sich für Mühlthals Studium und gesteht ihm, dass er es bedauere, von der Materie zu wenig zu verstehen, da ihm wahrscheinlich die künstlerische Ader fehle, er aber den aller höchsten Respekt davor habe. Weißt du, ich bin erst mit Thomas‘ Geburt in diesem Bereich gelandet, sagt er auf einmal. Vorher war ich ein langweiliger Beamter in der städtischen Verwaltung. Und dann plötzlich Vater dieses besonderen Kindes. Das war wie eine neue Zeitrechnung. Fengler legt seine Hand auf den Arm des Jungen und streichelt ihn. Ihm hier habe ich ein neues Leben zu verdanken. Klar, nicht immer leicht, gerade in der ersten Zeit. Aber ein Riesengeschenk, wirklich. Keine einzige Sekunde davon will ich missen. Unwillkürlich schaut er dabei auf seine Uhr und erschrickt. Er springt auf, wir müssen los, Thomy, verflixt, schon kurz nach zwei. Entschuldige, Sebastian, das war richtig nett mit dir, ein anderes Mal setzen wir das fort. Mühlthal erhebt sich und drückt zum zweiten Mal Peters Hand. Ja, das finde ich auch, das machen wir. Thomas will noch nicht gehen. Er schleckt genussvoll seine Finger ab. Trotzdem steht er klaglos auf, wankt einen Moment lang und folgt seinem Vater mit staksigem Schritt, wobei er weiterhin seine Finger ableckt. Mühlthal verkneift sich den beiden bis bald hinterherzurufen. So devot will er nicht sein. Er lässt sich mit einem Gefühl von Erschöpfung und Erleichterung auf den Stuhl fallen. Worüber genau er erleichtert ist, kann er nicht sagen. Und ob es nicht eher eine gewisse Fassungslosigkeit ist, die ihn ein wenig belustigt und auch verunsichert. Schau einer an, denkt er, das ist also der andere Fengler. Das gibt’s doch nicht. Er zündet sich eine Zigarette an, begleicht die Rechnung für Suppe, Eis und Getränke und macht sich auf den Weg zurück zur Arbeit.

 

Jul 4, 2024

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