
Es heißt, kreative Menschen liebten das persönlich hergestellte Chaos und würden darin alles immer sofort wiederfinden, selbst die Nadel im Haufen. Das ist nichts weiter als ein Klischee, finde ich. Eine Behauptung, die ich bisher allerdings noch nicht widerlegen konnte. Vielleicht, weil ich grundsätzlich ein ordentlicher und strukturierter, trotzdem künstlerisch veranlagter Typ bin, denke ich. Was an der These allerdings stimmen mag, ist der tatsächliche existenzielle oder sogar ontogenetische Ausgangspunkt der radikalen Unordnung, aus der im einsamen schöpferischen Prozess erst Gestalt erwächst, wenn diese per Inspiration Kontur erhält und aus dem Urschleim heraus ersteht. Also kann eine Künstlerpersönlichkeit möglicher Weise am allerbesten mit dem chaotischen Dasein umgehen, weil sie sonst die Welt schlicht nicht mehr versteht.
Aber nicht alle, die in ihrem Chaos leben, sind bereits Könige in ihrem Reich. Es gibt Leute, die können schlicht nichts wegschmeißen. Selbst wenn die Räume bereits bis zur Decke zugestopft, Eingang und Ausgang verrammelt sind, das Tageslicht spärlich auf das Ungeziefer und die herbeigehuschten Nagetiere fällt, der Gestank von Fäulnis, Unrat und Verwesung durch Ritzen und Spalten nach außen dringt, wagen sie es rein aus Scham nicht mehr, sich aus dem peinvoll isolierten Absaufen im Morast der Dinge und Vergänglichkeit zu retten, durchs Fenster zu entfliehen oder heimlich so viel Zeug rauszuwerfen, bis der Boden wieder sichtbar wird. Der fatale Circulus kann in einem so erreichten Endstadium allein von außen unterbrochen werden. Doch komm erst mal rein in die Burg, durchdringe die gewaltige Ekelwand aus höllischen Gerüchen! Ertrage dann noch das Gewusel und Geraschel von Rattenbrut, Käfernestern und Madenkolonien, deren Knuspern, Knabbern, Nagen in der Stille dieser Spinnenwebgruft du dann leider allzu deutlich mitbekommst!
In der Zeit, als ich noch als therapeutischer Begleiter im sozial-psychiatrischen Milieu Berlins gearbeitet habe, lernte ich einen Künstler namens Wolf kennen, der ausschließlich mit Müll und andren Fundobjekten arbeitete. Er reagierte ziemlich wüst und mit heiligem Zorn auf jeden meiner vorsichtigen Versuche, sein Atelier im Jahresrhythmus mit ihm auszumisten, zugunsten seiner freien Schöpferkraft und der fantastischen Entfaltung tatsächlich einzigartiger Projekte, wie ich ihm das natürlich völlig übergriffige Projekt dann zu erklären versuchte. Der Wolf, er warf mich raus, jedes Mal. Erst als ich ihm irgendwann anbot, Teile seines Oeuvres auszustellen, schien er zögerlich bereit, die Produktion zum ersten Mal ans Licht zu tragen. In einer alten Knopffabrik hatte ich eine Halle aufgetan, die auch ihm ganz gut gefiel, obwohl die nackte Leere des Raums ihn offensichtlich schwer erschütterte. Zumindest machte er mir an jenem Morgen, als ich schließlich mit der Pritsche pünktlich vor seiner Türe stand, gar nicht auf. Ich habe leider nie erfahren, wie es mit ihm weiterging.