
Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden,
was wir erleben, macht unser Schicksal aus.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Unweit des Strausberger Platzes in Berlin-Friedrichshain, auf dem damaligen Richtplatz, wurde im Jahre 1540 Thomas Kohlhase hingerichtet. Jener bis zum Letzten für moralische Gerechtigkeit kämpfende Michael Kohlhaas in der 1808 erschienenen Novelle des Heinrich von Kleist. Der Ort wurde nach der völligen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in den 50ern des letzten Jahrhunderts neugestaltet und bebaut. Ein paar Jahre vor Errichtung der Mauer. Die für Aufmärsche, politisch repräsentable Feierlichkeiten konzipierte breite Magistrale der ehemaligen Stalin-Allee diente nicht nur dem Renommee der Demokratischen Republik als Staatsmacht. Flankiert von Gebäuden im Prunkstil des Sozialistischen Klassizismus sowie mit Fluchtpunkt auf das 1969 eröffneten Wahrzeichen, den Fernsehmeldeturm 32, war sie vor allen Dingen beim Volk beliebte, durchaus exklusive Flaniermeile. Diese stand derjenigen, die Unter den Linden verlief, offenbar in nichts nach. Hört man also heute einen der Bürger der ehemaligen DDR über persönliche Erlebnisse entlang der heutigen Karl-Marx-Allee erzählen, teilt sich dem Zuhörer der unverkennbar prachtvolle Glanz einer irgendwie heilen Welt mit, in der anscheinend kein Auge trocken geblieben war. Nein, wenn es um die beachtenswerte Volksteilhabe an Konsum & Kultur ging, fehlte es an nichts: Cafés & Clubs, Buchläden, Kino, Galerien, Fleischerei samt Imbiss, Friseure, gehobene Gastronomie, selbst spezielle Einkaufsmöglichkeiten für Kinder, werdende Mütter, Arbeiter… Ja, es schwingt in diesen Schilderungen noch immer etwas jener Euphorie des idealen Aufbruchs mit. Auch der darin eingepflanzte feste Glaube an die reale Verwirklichung der humanen und sozialen Theorie nach Marx und Engels ist noch deutlich zu spüren. Der Sozialismus würde keine Fehler wiederholen und reife Menschen formen. Er wäre gerecht und solidarisch in Gemeinschaft, nicht bloß allzeit bereit den Frieden zu bewahren, sondern im Schulterschluss mit diesem Megabruder Russland sogar dazu fähig. Wer anders dachte oder sich nicht anpasste, wurde natürlich zum Staatsfeind erklärt.
Bummeln ist inzwischen nicht mehr schön dort. Zumindest sterben ganze Strecken entlang der zugig kalten oder brüllend heißen Straßenflucht weiter vor sich hin. Es gibt längst andre Orte zum Schlendern, Kaufen oder Ausgehen, die attraktiver sind. Selbst die sentimentale Treue mancher Leute zu der Gegend kann das ungebremste Siechtum alter Sinnstrukturen nicht erweichen. Auch wenn sie dorthin immer wieder hoffnungsvoll zurückkehren, als suchten sie nach einem verloren oder geraubt geglaubten besten Teil des Lebens. Und das nicht selten an haargenau derselben Stelle. Derart abgeschnitten von der Heimat verstehen die Besucher alter Plätze alles Neue, das bereits dort einzudringen wagt, als kapitalen Verrat an ihren tiefsten Wünschen oder Zielen. Sie müssen folgerichtig allerkleinsten Veränderungen misstrauen, die entsprechend gar nichts Gutes bringen können.
Das Versunkene, das Vergangene als golden, besser, reiner zu beschwören, ist sicher eine generelle Eigenschaft des Menschen, der im Erinnern tiefer wurzelt als in der Gegenwart, je länger er am Leben ist. Tatsächlich ist die Zumutung befremdlicher Entwicklung andrer Generationen und ihrer Wirklichkeiten, die zu begreifen immer schwerer wird, kaum noch zu ertragen. Vielleicht nur dann, wenn die überreiche persönliche Erfahrung, die Zeugenschaft des Einstigen als – insgeheim und still gehegt – weitaus überlegen hochgehalten wird. Die Nostalgie wäre so gesehen ein allzu menschliches und individuelles Bemühen, das wachsende, eigene Unvermögen, in der aktuellen Welt zurechtzukommen, sogar vor sich selbst zu leugnen.
Wird dieser naturgemäß senile Vorgang des Schönredens und des persönlichen Verklärens jedoch von einer ganzen Gruppe mit ähnlichem Erlebensinhalt noch verstärkt, dürfte auch der Verdrängungsakt als solcher kollektive Dynamik entfalten. Und das erst recht durch eine übermächtig von außen kommende Verstörung – wie im Falle der Ereignisse der Wendezeit und Einheit beider deutscher Staaten. Die letzte Chance, noch ein Fünkchen der gelöschten Verbundenheit anzufachen, liegt ab sofort und ausschließlich in einem einhellig zurückgewandten Herdenblick.
Mag durchaus sein, dass ich wohl nie begreifen werde, weshalb bestimmte Leute sich den Überwachungsstaat, ja einen Führer wie Hitler oder einen Stalin unbedingt zurückwünschen. Doch ich beginne widerwillig zu verstehen, warum vermutlich historisch belegte Tatsachen zugunsten der persönlichen Erfahrung verleugnet werden. Denn was bliebe sonst von der Bedeutung des eigenen Daseins übrig, außer jene Kläglichkeit der aktuellen Unzulänglichkeit? Noch dazu auf einem zugegeben ausgehöhlten Fundament lebenslanger Irrtümer?
Autor: Titus David Hamdorf (2023)